Hotel van Gogh
seinem Leichnam, und nun dringt sie in die Welt ein, die sich ihr Onkel neu aufgebaut hat. Sie spielt kurz mit dem Gedanken, den Koffer und seine Aktentasche einfach im Flur abzustellen, mit einer kurzen Nachricht, und die Wohnung wieder zu verlassen. Doch beim Blättern durch die Post stößt sie auf einen Brief des Zwei-Falken-Verlags. Wieso ein Brief und nicht das Manuskript?, denkt sie. Ungeduldig reißt sie den Briefumschlag auf.
Lieber Herr Heller,
Ihre überarbeitete Fassung von SARAHS PARIS hat in unserem Haus großen Anklang gefunden. Es ist uns daher eine besondere Freude, Ihnen anzubieten, Sie in unser Herbstprogramm aufzunehmen. Ihr Einverständnis voraussetzend schlagen wir vor, dass Sie uns zur vertraglichen Regelung dieser Angelegenheit baldmöglichst in Frankfurt besuchen. Wir beabsichtigen, SARAHS PARIS als wichtige Neuerscheinung auf der kommenden Frankfurter Buchmesse vorzustellen.
Wir sehen der künftigen Zusammenarbeit mit Ihnen, lieber Herr Heller, mit großen Erwartungen entgegen und hoffen, bald von Ihnen zu hören.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Dr. Werner Zapf, Verleger
Benommen starrt sie auf den Brief. Vor zehn Jahren hatte er Deutschland den Rücken gekehrt, mit diesem Traum, sich neu zu erfinden. Vom Unternehmer zum Schriftsteller. Und nun, ans Ziel gelangt, erschießt er sich?
Sie hat von der Angst des Künstlers vor dem Erfolg gehört. Aber warum dann diese Besessenheit, dieser lange einsame Kampf? Der Marathonläufer, der, als Erster vor der Ziellinie angekommen, zum Erstaunen aller anhält und seitlich abtritt. Den niemand versteht.
Sabine Bucher ist für ein solches Verhalten zu nüchtern veranlagt. Wozu diese Dramatik? In ihren Augen hat er sich damit endgültig zum Verlierer abgestempelt. Auf sein Buch kommt es nicht mehr an.
Langsam geht sie durch die Zimmer. Sie erinnert sich nicht, dass er sich vor seiner Pariser Zeit für moderne Kunst interessiert hätte. Die grellen Farben der Bilder stehen im krassen Gegensatz zu der kargen asiatischen Möblierung und der betonten Ordnung in der Wohnung. Erst Ingenieur und dann Künstler, ganz kann man eben doch nicht vor sich selbst davonlaufen. Sie bleibt vor den Erinnerungsfotos im Bücherregal des Wohnzimmers stehen. Er muss viel gereist sein, denkt sie, San Francisco, Südfrankreich und New York. Immer andere Personen, Männer und Frauen, niemand, der sich besonders heraushebt. Wahrscheinlich hat er doch allein gelebt. Eine überdimensionale Arbeitsplatte wie bei einem Architekten oder Designer beherrscht das Büro, die Atmosphäre unordentlich kreativ, im krassen Gegensatz zu dem betont gepflegten Rahmen der anderen Zimmer.
Vergeblich sucht sie nach einem Schreiben, in dem er seinen tragischen Schritt rechtfertigen würde. Der Schreibtisch macht eher den Eindruck, als werde er jeden Moment zurückkommen, um dann genau an der Stelle fortzufahren, an der er seine Arbeit vor der Fahrt nach Auvers unterbrochen hat.
Sie nimmt auf dem schwarzen Arbeitsstuhl am Schreibtisch vor seinem Computer Platz. Von allen Seiten drängt sich seine Gegenwart auf. Sie scheut sich, seine Unterlagen anzutasten. Plötzlich hat sie das Gefühl, als ob sie doch nicht allein in der Wohnung wäre. Sie lauscht angestrengt in die Stille. Aber nichts, kein Ton.
An der Ecke des Schreibtischs steht silbergerahmt das Foto einer Frau. Volles schwarzes Haar fällt um ihr Gesicht, Jüdin vielleicht oder Araberin. Sabine spürt, dass diese Frau in seinem Leben eine besondere Rolle gespielt haben muss. Um ihren Hals trägt sie ein türkisfarbenes seidenes Tuch. Ihr Blick ist selbstsicher, offen, gleichzeitig auch fragend. Auf den Lippen ein verhaltenes Lächeln. Das krasse Gegenteil zu seiner blonden Exfrau. Wie alles hier im Gegensatz zu seinem früheren Leben steht.
Unschlüssig blickt sie sich um. Die Stille wirkt erdrückend. Sie ruft Crosnier in Auvers an, aus dem plötzlichen Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen.
»Nein, in der Sache Ihres Onkels gibt es nichts Neues, Madame, die Ergebnisse der Obduktion erhalten wir frühestens morgen. Haben Sie entschieden, was nun mit dem Leichnam zu geschehen hat?«
Um sie die Spuren seines Lebens, sein Duft in diesen Räumen, in denen er vor kurzem noch gearbeitet hat.
»Sie müssen sich gedulden, bis ein Testament auftaucht. Übrigens, wissen Sie, ob sein Auto vor dem Gasthof oder sonst wo in Auvers gefunden wurde?«
»Die Iraner halten uns beschäftigt, wir kommen zu sonst nichts. Auvers wird nun von
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