Hotel van Gogh
ängstlichen Augen. Nicht erst seit heute. Theo hat stets unter der einen oder anderen Krankheit gelitten. Je mehr er sich dagegen sträubte und anderes vorzuspielen suchte, umso schwerer fiel es ihm, seinen körperlichen Verfall zu vertuschen. Mitunter peinigten ihn die Schmerzen so sehr, dass sich sein Gesicht verzerrte. Er wurde von nicht enden wollenden Hustenanfällen geschüttelt. Und Vincent sah, dass es sich bei dieser Krankheit nicht um eine vorüberziehende Wolke handelte.
Für Vincent war Theo die wichtigste Konstante in seinem Leben. Nur durch ihn würden seine Bilder je den Weg in die Öffentlichkeit finden, ohne Theo war seine Kunst zum Schweigen verurteilt. Ohne Theo würde es keine sternengefüllten Nächte und keine Sonnenblumen mehr geben. Um leben und arbeiten zu können, brauchte Vincent einen gesunden Bruder. Als für Theo keine Hoffnung mehr bestand, wusste er auch, dass es für seine Farben keine Zukunft geben würde. Dass sein Schaffen umsonst und zur Sinnlosigkeit verdammt war.
Als er Theos unabwendbaren Verfall erkannt hatte, blieb ihm keine andere Wahl, als sein Werk an dieser Stelle abzubrechen.
Jetzt, allein in der Galerie in Paris in dem nachmittäglich drückend heißen August, nach einem kurzen Aufenthalt bei seiner Familie in Holland, gesteht sich Theo ein, dass Vincent seinen Zustand richtig eingeschätzt hatte. Seine Gedanken treiben richtungslos, nirgends findet er Halt. Er ist entsetzt, wie sehr seine Kräfte in letzter Zeit nachgelassen haben. Er stemmt sich dagegen, schon seiner Frau und dem Kind zuliebe, aber dann überrollt ihn der nächste Schwächeanfall.
Ich bin doch viel zu jung! Vincent war älter als ich, und was er geleistet hat, ist die Leistung eines vollen Lebens. Was kann ich demgegenüber schon vorweisen?
Ein Glück, dass Johanna und das Kind in Holland geblieben sind und mich nicht in diesem Zustand erleben.
Und doch, wenn nur Johanna bei mir wäre, um mir in dieser schweren Situation beizustehen.
Die Klingel an der Eingangstür schreckt ihn auf. Verstört weiß er momentan nicht, wo er sich befindet. Er war eingeschlafen, Alpträume, kein Wunder, bei der Hitze. Die beiden Partner sind in den Süden verreist, und für den Nachmittag waren keine Kunden angesagt. Im Sommer wird nichts verkauft, das weiß jeder in diesem Geschäft, schon gar nicht an Kundschaft von der Straße.
Zwei Besucher haben die Galerie betreten. Als Theo aufsteht, wird er von einem Hustenanfall geschüttelt, seine Augen tränen, mit beiden Armen auf das Pult gestützt sieht er nur noch Schwarz. Minuten vergehen, bis er wieder gleichmäßig atmet.
Die beiden Besucher schauen sich ohne jedes Interesse die ausgestellten Salonbilder und großformatigen dunklen Landschaftsbilder an. Vor einem Corot bleiben sie kurz stehen. Amerikaner, die sich in die Galerie verirrt haben, um für einen Augenblick Abkühlung zu finden. Der Mann trägt ein hellblau und weiß gestreiftes Jackett und einen Strohhut, die Frau einen bis zum Knöchel reichenden Seidenrock und eine dunkle Bluse. In der Hand hält sie einen Sonnenschirm.
»Uns wurde gesagt, dass Ihre Galerie Claude Monet vertritt?«
Theo hatte Monet gegen den Willen seiner Vorgesetzten vertraglich an ihre Galerie gebunden. In den vergangenen Monaten hat er das eine oder andere seiner Bilder verkauft, gerade auch an Amerikaner. Sofort drängt sich der Gedanke auf, dass, wer sich für Monet interessiert, auch für Vincent offen sein muss. Aber er hat nichts von Vincent in der Galerie vorrätig, das haben ihm die Eigentümer ausdrücklich noch nicht gestattet. Wenigstens kann er den Besuchern drei Landschaftsbilder von Monet zeigen, Flussszenen mit sommerlichen Wiesen und hängenden Weiden.
»Im Moment ist das alles, aber wir erhalten laufend neue Arbeiten. Monet steht bei uns unter Vertrag.«
»Wann planen Sie eine Einzelausstellung?«
»Wir stellen Monet bisher nur in der Gruppe aus.«
Der Amerikaner blickt ihn verständnislos an. Er kauft schließlich einen der Monets, Weidenbäume von Sonnenstrahlen durchflutet.
Ein Verkaufserfolg mitten im Sommer! Der unvoreingenommene Blick aus der Neuen Welt. Darum geht es, man muss frei und offen sein, um die Gegenwartskunst, die sich den Problemen, den Gefühlen und Ängsten unserer Zeit stellt, zu schätzen und zu begreifen. Nur dass man dazu in Paris nicht bereit ist.
Theos Niedergeschlagenheit ist sofort verflogen. Er schreibt noch in der Galerie einen Brief an Johanna, zieht eine Parallele von
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