Hotel van Gogh
einmal im Ansatz. Sie nimmt sich vor, wenn sie einmal die Kisten und Leinwände weggeschafft hat, einige Zimmer in ihrem Haus zu vermieten, damit Abwechslung in ihren Alltag kommt. Aber sie kann sich nicht überwinden, die Kisten mit Theos Briefen, Aufzeichnungen und Notizen zu vernichten. Eine seltsame Scheu hält sie zurück. Jedoch solange sie sich nicht zu dem endgültigen Schlussstrich durchringt, werden die unseligen Erinnerungen auch in Zukunft auf ihr lasten.
Gelegentlich ertappt sie sich, wie sie gedankenverloren vor den Kisten steht. An einem regnerischen Nachmittag greift sie ein Bündel Briefe. Es handelt sich um Briefe von Vincent. Theo hat jeden seiner Briefe aufgehoben.
Sie liest den erstbesten Brief, datiert vom 17. März 1873. Vincent hat ihn in Den Haag geschrieben, anscheinend zu einer Zeit, als er und Theo beide in der Kunsthandlung Goupil beschäftigt waren, kurz vor Vincents Versetzung nach London. Ein unkomplizierter, mitteilsamer Brief. Vincent wirkt ausgeglichen, offen und interessiert. Sie ist über diese Stimme überrascht, so hat sie ihn nie gekannt. Und so hat sie ihn sich nie vorgestellt. Sie hat ihn nur als den ungestümen und verschlossenen Menschen erlebt, dem es niemand recht machen konnte. Nicht als den freundlichen, ratgebenden Bruder. Er muss wohl durchaus erfolgreich gewesen sein, warum sonst hätte man ihn nach London in die dortige Galerie gesandt?
Der nächste Packen enthält Briefe aus London, nach Datum sortiert. Schon damals Theos strenger Ordnungssinn. Sie lächelt beim Gedanken an seine unverbesserlichen Manien. Sie verspürt plötzlich die vertraute Nähe zu Theo, ein Gefühl von Wärme, wie schon lange nicht mehr.
Die Londoner Briefe enthalten Mitteilungen über das Leben dort und seine Tätigkeit in der Galerie. Sie versucht sich vorzustellen, wie sich die Brüder gegenseitig geschäftlich die Bälle zuspielten. Vincent erkundigt sich nach dem Wohlergehen von Verwandten, deutet eine Liebschaft an, gibt Theo Anregungen und Ermahnungen. Der große Bruder spricht zu seinem jüngeren Bruder. Geistvoll und intelligent. Sie mag diesen Menschen, den sie in den Briefen entdeckt.
Sie nimmt einen Brief aus einem anderen Stoß, geschrieben in Amsterdam am 30. Mai 1877. Vincent ist nicht mehr im Kunsthandel tätig, der Beginn seines unsteten Wanderns deutet sich an. Er bereitet sich aufs Pfarramt vor, spricht von der Reinheit vor Gott und Christus. Der Stil ist dringlicher geworden, nur in der Anteilnahme an Theos Leben schwingt eine gewisse Leichtigkeit mit.
Fast ein Jahr später, anscheinend lebt er noch in Amsterdam, ein Brief nach einem Besuch von Theo. Man ahnt, dass sich die Brüder gegenseitig das Herz ausgeschüttet haben. Ein unglaublich langer Brief. Vincent ist über den Tod des Malers Daubigny bestürzt, dessen Garten er Jahre später in Auvers als eines seiner letzten großen Bilder malen würde. Die Wege des Schicksals, die auf undurchsichtige Weise vorgezeichnet sind, denkt sie.
Vincent ist vollständig im Religiösen aufgegangen. Hinter dem vertrauten Gespräch mit Theo bricht sein unerbittlicher Glaube durch. Als Prediger lässt er nur die reinsten Ideale gelten, er fordert absolute Härte und Strenge, insbesondere gegen sich selbst. Sie hat nie einen ergreifenderen Brief gelesen. Das tragische Ende lässt sich nur für den erahnen, der es kennt.
Auf eine fast hypnotische Weise fühlt sie sich von Vincent angezogen. Theo muss dies ebenso empfunden haben. Durch ihn, wie die Ehrlichkeit und Offenheit der Briefe belegt, war es Vincent möglich, sich einem anderen Menschen mitzuteilen. Vielleicht sein einziger Kontakt in jener Zeit im Leben außerhalb der Religion.
Es entstehen Lücken, plötzlich schreibt Vincent auf Französisch, obwohl er noch in Holland lebt. Er muss Schiffbruch erlitten haben. Der erste Brief an Theo nach langer Pause, im Jahr 1880. Ernst im Stil, ein Ereignis, Johanna erkennt nicht, welches, hat Spuren hinterlassen, ihn zum Nachdenken gezwungen. Lange starrt sie auf den Satz: Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch, fähig und dazu bestimmt, mehr oder weniger unsinnige Dinge zu tun, die ich dann mehr oder weniger zu bereuen habe. Zehn Jahre bevor er sich die Kugel ins Herz geschossen hat, nach einer langen Kette mehr oder weniger unsinniger Dinge.
Im selben Brief spielt er auf unerträgliche Entbehrungen an, nur um sich kurz darauf leidenschaftlich über Malerei, über Rembrandt und Millet zu ergehen. Als lebe er gleichzeitig zwei Leben,
Weitere Kostenlose Bücher