Hotel van Gogh
zu. Es geht um seinen Roman und was er damit beabsichtigte, auch wenn dies das Buchprojekt gefährden sollte. Bei der Auseinandersetzung mit der Lektorin empfindet die plötzlich eine Verbundenheit und überraschende Zuneigung zu ihrem Onkel.
»Gut, dann nehme ich das Manuskript erst mal mit.«
Sie hatte sich die Besprechung länger vorgestellt, aber nach knapp einer Stunde verlässt sie den Verlag. Dr. Zapf übergibt ihr bei der Verabschiedung eine Kopie des Vertrags, den er für Arthur Heller vorbereitet hatte.
»Der Vertrag enthält unsere üblichen Klauseln und Konditionen.«
»Ich verlasse mich in dieser Sache auf Sie, möchte ihn mir aber doch erst in Ruhe ansehen.«
»Wann können wir mit der Rückgabe des Manuskripts rechnen? Ende der Woche? Spätestens dann sollte das Buch in den Druck.«
»Ich kann Ihnen nichts versprechen. Nächste Woche bin ich völlig ausgebucht in der Kanzlei. Wenn ich es diese Woche nicht schaffe, dann eben nicht.«
»Vergessen Sie bitte nicht, was die Veröffentlichung Ihrem Onkel bedeutet hätte. Letztendlich geht der Verlag ein enormes Risiko ein.«
Warum hat sich Arthur Heller bloß auf dieses Spiel eingelassen, denkt sie nach dem Gespräch? Der literarische Betrieb, der sich ihm entgegenstellen würde, junge Lektoren, junge Autoren, das musste er doch wissen. Als ob ein lebenserfahrener Späteinsteiger nicht sicherer als ein tastender Jungautor den nächsten Erfolgsroman garantieren könnte. Ganz abgesehen von den Lesern, die überwiegend älter sind und um deren Meinung und das, was sie eigentlich bewegt, sich keiner der jungen Autoren und Lektoren schert.
Später Vormittag, es bleiben ihr einige Stunden bis zum Rückflug nach Sylt. Ihr Büro befindet sich in der Nähe des Verlags, aber jeder würde denken, sie könne nicht einmal ein paar Tage ohne die Arbeit auskommen. Sie entschließt sich, die Wartezeit in ihrer Wohnung zu verbringen. Ein seltsames Gefühl, mitten im Urlaub einfach so bei sich zu Hause aufzutauchen.
Sie liest zwanzig Seiten des Manuskripts, ohne anzuhalten oder die roten Verbesserungen zu beachten. Schließlich blickt sie auf, wie um Luft zu holen. Die Geschichte gefällt ihr, geschrieben aus der Perspektive von Steffen, dem jungen Studenten. Was ihm zustößt, stößt auch dem Leser zu. Kurze Sätze, klar, nichts Überflüssiges, keine unnützen Abschweifungen.
Wenn Arthur Heller diese Spannung aufrechterhalten kann, aber sie befürchtet, dass ihm irgendwann die Luft ausgehen wird. Seine Sprache klingt jung, jedenfalls empfindet sie dies so. Vielleicht lebte er deswegen in einem anderen Sprachumfeld, um seine Sprache auf diese Weise jung zu halten. Vielleicht hat ihn auch die Zweisprachigkeit vorsichtiger im Umgang mit Worten werden lassen. Jedenfalls kann man den Text nicht einfach überfliegen, jeder Satz verlangt volle Aufmerksamkeit. Sie spürt, wie das Buch sie, fast gegen ihren Willen, in seinen Bann gezogen hat.
Sie beginnt noch einmal von vorn, um diesmal auf die Änderungen der Lektorin einzugehen. Die roten Anmerkungen versieht sie mit einem schwarzen Haken, um auf diese Weise ihre Zustimmung zu bekunden. Manchmal wird sie vom Geschehen mitgerissen und vergisst über Seiten hinweg ihre Haken. Plötzlich hat die Lektorin mit ihrem Rotstift einige Seiten durchgestrichen, vehement, wie Messerstiche. Die Gefühle des Protagonisten, als er das jüdische Viertel in Paris besucht, um dort Sarah zu treffen, verschwommene Empfindungen, dunkle Ahnungen und Rückblenden in die Zeit der deutschen Besatzung. Ihr leuchtet nicht ein, warum die Lektorin diesen Teil streichen will. Sie zieht eine Wellenlinie durch die roten Striche, um deutlich zu machen, dass sie mit dieser Änderung nicht einverstanden ist.
Später schneidet der Rotstift der Lektorin brutal über die Seite der Beischlafszene. Sabine glaubt, sich an dieses grausame Foto der entsetzten und verängstigten nackten jüdischen Frauen vor ihrer Hinrichtung erinnern zu können. Wie sollte man es je vergessen! Für die junge Lektorin vielleicht lediglich ein historisches Dokument, ohne Bezug zu ihrer heutigen Gefühlswelt, aber für Arthur Heller, einem Kind der Tätergeneration, behält diese verheerende Schuld eine nahe und tiefer gehende Bedeutung. Sabine steht auf der Seite ihres Onkels, besonders nachdem sie erkennt, wie sehr diese Szene den weiteren Verlauf der Handlung bestimmt.
Im Weiterlesen wird ihr klar, dass die Streichungen der Lektorin überwiegend die jüdischen Bezüge
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