Hotel van Gogh
zwischen denen keine Verbindung besteht.
Tatsächlich hat sich daran nie etwas geändert. Mit diesen Widersprüchen setzte er sich noch genauso auseinander, als sie ihn Jahre später kennenlernte. Täglich aufs Härteste geprüft, und doch mit einer verzehrenden Begeisterung seiner Arbeit gegenüber.
Beim Lesen fällt ihr auf, dass sie kein Mitleid mit ihm verspürt, vielleicht weil Vincent nicht nach Mitleid trachtet. Ganz im Gegenteil, sie wird von seiner Leidenschaft mitgerissen, der Klarheit seiner Gedanken und seinem besessenen Glauben an das außerordentliche Künstlerische, das er anstrebt. Vor ihrem Auge entsteht ein neuer Mensch, ein ganz anderer als der, den sie gekannt hat und dem sie die Schuld an ihrem Unglück gibt. Dieser neue Mensch umschließt die ganze Welt und versucht mit aller Gewalt, ihr die Augen zu öffnen.
Im Grunde lebt er in trostloser Einsamkeit. Die Einsamkeit ist der Kern seiner Existenz. Wie früher in seinem religiösen Übereifer stellt Vincent viel zu hohe Ansprüche an seine Umwelt. Niemand ist dem auf Dauer gewachsen, niemand außer Theo.
Tatsächlich sind die beiden grundverschieden. Es gibt Spannungen, aber die körperliche Entfernung lässt sie am Ende noch jede Schwierigkeit überbrücken. Meistens ist es Vincent, der nach längeren Pausen das Schweigen bricht. Als brauche er Theo mehr als umgekehrt. Theo hält ihn durch seine moralische und insbesondere durch seine finanzielle Unterstützung am Leben. Möglich, dass sich Vincent deswegen verpflichtet fühlt, ihm ausführlich seine Gedanken und Absichten mitzuteilen. Oder ging es ihm darum, einen Zeugen aufzubauen, der sein Werk der Welt vermitteln würde?
Erschöpft legt sie am Abend die Briefe beiseite. Vincents Gegenwart empfindet sie plötzlich nicht mehr bedrohlich, eher fürsorglich und beschützend. Durch seine Briefe ist er zu ihrem Vertrauten geworden.
Am folgenden Tag entdeckt sie die Briefe aus St. Rémy. Sie erinnert sich deutlich, wie jeder von ihnen sie in ihrem angenehmen Pariser Leben erschüttert hat. Jetzt fällt ihr auf, dass sich auch in ihnen diese beiden Seiten abwechseln, die eine der begeisternden und eindringlichen Erläuterungen seiner künstlerischen Absichten und die andere der tiefen Verzweiflung gegenüber den Lasten des täglichen Lebens. Manchmal erweckt Vincent den Anschein, dass er dem Aufgeben nahe ist, nur um kurz darauf überschwänglich von seiner neuesten Arbeit zu berichten.
Allerdings hat sich der Rahmen verengt. Den Briefen fehlt das Sendungsbewusstsein von früher. Zunehmend sucht er sich zu rechtfertigen, es geht um das Schicksal des Malers, die Überzeugung von der Richtigkeit seiner künstlerischen Sprache trotz aller Abweisungen durch den Markt, gegen dessen Voreingenommenheit er unermüdlich anstürmt.
In jedem dieser Briefe bricht seine Einsamkeit durch. Irgendwann wird sich Johanna dadurch auch ihrer eigenen Einsamkeit bewusst. Oder ist es die Leere, in der sie lebt?
Nie hat sie sich Vincent näher gefühlt, plötzlich erkennt sie ihn so, wie nur Theo ihn gekannt hat. Sie sieht nicht mehr den düsteren Sonderling mit seiner krankhaft gesteigerten Empfindsamkeit, der sich selbst im Weg steht, reizbar und aufbrausend, ständig mit dem Vorwurf, verschmäht und ungerecht behandelt zu werden, dabei unfähig zu einem geregelten und verantwortungsvollen Leben. Vor ihr steht der einfühlsame und geniale Mensch, der verzweifelt ihre Sympathie und Freundschaft sucht.
Natürlich ging er mit einem unbeugsamen Willen und einer bis ans Selbstzerstörerische reichenden Arbeitswut ans Werk. Aber bei der riesigen Aufgabe vor ihm und der kurzen Zeit, die ihm dafür zugesprochen war, blieb ihm nur die Möglichkeit, wie in einem fieberhaften Rausch das Letzte aus sich herauszuholen.
Schicht um Schicht räumt sie mit jedem neuen Brief die Trümmer ab, die auf dem tragischen Ende der Brüder liegen, bis allein das einzigartige Werk zurückbleibt, das sie gemeinsam ihrer Nachwelt vermacht haben. Sie spürt diesen Funken, der auf sie übergesprungen ist, als hätte sich Vincent ihres Lebens bemächtigt. Und auf eine unerklärliche Weise bringt Vincent sie auch Theo wieder näher.
Der Wahnsinn und die Tragik der Brüder und dann das Durcheinander ihrer fluchtartigen Abreise aus Paris hatten sie blind für Vincents und Theos Hinterlassenschaft gemacht. Aber nun erkennt sie in der Vermittlung dieses Werks an die Welt ihre eigene Berufung. Für sie hat Vincent ausführlich jedes Bild
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