Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
fünf vor dem Bahnhofskiosk und wartete auf die Auslieferung der noch druckfrischen Zeitungen. Da lag ich 500 Kilometer weiter südwestlich noch in den Federn. Die anderen fanden ein Zimmer, weil sie es mussten. Sie hatten keine Wahl. Ich dagegen hatte einen Studienplatz und eine Studentenwohnung in Würzburg. Hierher konnte ich mich jederzeit wieder zurückziehen.
Was mir heute klar ist: Ich habe damals gar keinen ernsthaften Versuch unternommen, auf Dauer in Berlin unterzukommen. Klar, ich wollte nach Berlin. Aber ich hatte auch Angst, meinen bequemen, festgefügten Mikrokosmos zu verlassen. In Würzburg kannte ich jeden und jeder kannte mich; in Berlin wäre ich ein Nobody gewesen – ich hätte wieder ganz von vorne anfangen müssen. Andererseits sah ich mich gerne als coolen Hund, der mit nichts weiter als einem Seesack auf der Schulter in ein 200-Quadratmeter-Loft in Kreuzberg einzieht und von dort aus die Großstadt, ach was sage ich, die Welt erobert.
Wie schaffte ich es, diesen weit klaffenden Spalt in meinem Selbstbild zu schließen? Mit welcher möglichst plausiblen Erklärung rechtfertigte ich mein Versagen vor anderen und vor allem mir selbst gegenüber? Nichts einfacher als das. Ich erzählte jedem, der es hören wollte – und auch jedem, der es
nicht
hören wollte: »Ich hab schon wieder 100 Mark für eine Fahrkarte nach Berlin ausgegeben. Ganz umsonst!« Ein eigentlich leicht durchschaubarer Versuch, mich in die bequeme Opferrolle zu manövrieren: »Schaut her, was ich alles für meinen Traum tue, und niemand auf der grausamen Welt erkennt meine Leistung an!« So ein Unsinn! War ich denn wirklich der Meinung, dass die Tatsache, dass ich für die Fahrt nach Berlin in die Tasche griff, mich automatisch als zukünftigen Mieter autorisierte? Allerdings: Ich kam damit durch.
Was ebenso als Opfer-Masche wirkte, war mein Standardsatz: »In Berlin ist der Wohnungsmarkt eben dicht! Da kriegst du einfach keine Wohnung.« Mit einem Achselzucken und traurigen Augen hervorgebracht verfehlte er nicht seine Wirkung. Meine Freunde reagierten in angemessener Form: »Das ist wirklich eine Schande, dass es keinen bezahlbaren Wohnraum für solche wie uns in Berlin gibt! Tja, da kann man einfach nichts machen.«
Ausreden sind einfach toll!
Vermieter, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, geldgierige Maklerhaie, die unfähige Politik oder als immer gültiger Rundumschlag: die Schweine da oben – alles bedauernswerte Umstände, die mich daran hinderten, mein ach so ersehntes Ziel zu erreichen. Mit dieser Hidden Agenda musste ich mein Leben nicht ändern – und stand dazu noch vor meinen Freunden als furchtloser, wenn auch verhinderter Weltenbummler da. Ausreden sind einfach toll!
Das Erfolgsprinzip, das hinter den Ausreden steht: Alle gewinnen. Ich muss nicht zugeben, dass ich einfach nur zu faul oder zu blöd bin, um etwas zu erreichen. Und die anderen wollen lieber Ausreden als die Wahrheit hören. Warum? Mundus vult decipi – die Welt will betrogen werden. Sebastian Brant sagte das; der war Rechtsgelehrter an der Universität Basel – das war vor 500 Jahren. Ist also nichts Neues. Vielleicht funktioniert es so: Ich kratz dir den Rücken, dann kratzt du irgendwann mir den Rücken. Oder anders gesagt: Wenn ich dir jetzt deine Ausrede glaube, dann glaubst du mir demnächst auch meine. Dann bist du mir ein »Da kannst du echt nichts dafür« schuldig.
Mit so einem Pakt einigt man sich auf eine Version der Wahrheit, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Ausreden: Obwohl sie Falschgeld sind, werden sie als Zahlungsmittel akzeptiert. Bequem. Aber blöd, wenn man glücklich werden will.
Festgemauert in der Erden
Es gibt etwas, was sogar noch besser als eine Ausrede funktioniert: Glaubenssätze. Was ist der Unterschied? Wenn einer zur Verabredung zu spät kommt und sagt: »Ich hab kein Taxi gefunden«, dann ist das eine Ausrede. Das Problem: Er muss sie sich erst einfallen lassen. Noch bequemer wird es, wenn eine Ausrede so oft benutzt wird, dass aus dem Einzelfall eine Regel wird: »Es gibt in dieser Stadt viel zu wenig Taxis; wenn man eins braucht, ist keins da.« Dann ist die Ausrede zum allgemeingültigen Glaubenssatz geworden. Mit so einem Glaubenssatz im Gepäck brauchst du beim nächsten Zuspätkommen noch nicht einmal mehr weitschweifig von deiner vergeblichen Suche nach einem Taxi zu erzählen, sondern nur ein vielsagendes »Du weißt ja, die Taxis …« fallen zu lassen. Und alles ist
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