Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
dem Flügel entlangstreicht. Daraus ergibt sich eine Sogwirkung, die das Flugzeug wie mit einer eisernen Faust nach oben zieht. Reißt aber dieser Luftstrom ab, zum Beispiel weil die Flügel wie ein steil aufgerichtetes Brett quer zum Wind stehen, dann wird aus dem eleganten Flieger von einer Sekunde zur nächsten ein Sack Kartoffeln. Du musst also wie Ikarus nur zu steil in die Sonne fliegen, und es wird dich Richtung Boden hauen.
Ich kann verstehen, dass Robert nicht begeistert ist, aber mit seiner vehementen Gegenwehr, seiner absoluten Verweigerung habe ich nicht gerechnet. »Du bist ja vollkommen verrückt! Willst du uns umbringen?«
Du bist ja vollkommen verrückt! Willst du uns umbringen?
Hey, Robert ist kein Flugschüler. Er hat zig Flugstunden auf dem Buckel. Und trotzdem: Dieser erfahrene Flieger traut sich nicht. Dabei ist ein bewusst eingeleiteter Stall alles andere als ein Himmelfahrtskommando: Sobald die Maschine außer Kontrolle gerät, musst du nur die Nerven behalten und die Nase des Flugzeugs nach unten zwingen. Dann nimmt es wieder Fahrt auf, und sofort greift auch wieder die Luftströmung und du kannst die Maschine wieder steuern. Eigentlich keine große Sache, ein bisschen wie das Schleudertraining auf einem verlassenen, dick vereisten Supermarkt-Parkplatz an einem Sonntagvormittag. Du musst nur genug Höhe haben, damit es dich nicht in die Erde bohrt, bevor sich dein Flieger wieder gefangen hat.
Wir lassen es sein. Wenn einer Angst hat, dann sind solche Manöver gefährlich. Schade. Ich hätte gern mal wieder dieses ganz besondere Achterbahn-Prickeln verspürt. Und Robert hat eine der seltenen Gelegenheiten, sich kontrolliert auf den Ernstfall vorzubereiten, verpasst.
Jetzt
wäre die optimale Gelegenheit gewesen, es einmal auszuprobieren. Er hatte jemanden neben sich sitzen, der einen Stall schon hunderte Male geflogen war und wusste, wie es geht. Mich. Robert wäre kein nennenswertes Risiko eingegangen. Die Gefahr, dass ihn einmal unvorbereitet ein Stall erwischt, ist viel, viel größer.
Wenn du mit einer Entscheidung zu lange wartest, bist du nicht mehr derjenige, der den Zeitpunkt bestimmt. Dann kann es sein, dass ein anderer die Entscheidung für dich trifft. Oder dass die Ereignisse dich überrollen. Das kann zwar immer noch besser sein, als bis in alle Ewigkeit die Entscheidung vor dir herzuschieben, Möglichkeiten zu wälzen oder erst gar nicht auf den Trichter zu kommen, dass etwas geändert werden könnte. Aber darauf wetten würde ich nicht. Mit jeder Stunde, die du wartest, die Entscheidung verschiebst, dich vor ihr drückst, verlierst du Stück für Stück einen ganz besonderen Vorteil, der anfangs klar auf deiner Seite steht: bestimmen zu können,
wann
du ins Neue aufbrechen willst. Diesen Zeitpunkt bestimmen zu können ist pure Macht:
Du
bestimmst, wann du bereit für die Änderung bist.
Du
bestimmst, wann es passiert.
Seit Jahren überlegst du dir, ob du den Job wechselst oder nicht. Du redest dir die Arbeit schön. Sie ist zwar eher sinnlos und die Bezahlung unterirdisch, aber die Kollegen und sogar der Chef sind doch so nett! Dein schöner Selbstbetrug wirkt sich wie eine tägliche Dosis Laudanum aus, sodass du manchmal monatelang nicht an dieses Problem denkst. Aber das Unbehagen kommt immer wieder hoch: »Das ist doch gar nicht der richtige Platz für mich! Woanders könnte ich mein Potenzial doch viel besser entfalten!« Und dann wirst du unsanft aus dem Winterschlaf gerissen: Über Nacht macht dein Unternehmen pleite. Und nun bist du dort, wo du schon vor drei Jahren hättest sein sollen: auf der Suche nach etwas anderem. Nur bist du jetzt völlig unvorbereitet und die Plötzlichkeit, mit der das geschehen ist, haut dich um. Du musst nun unter Zeitdruck nach einem neuen Job suchen, von der Straße aus und nicht aus dem vorigen Arbeitsverhältnis heraus. Du hättest es viel einfacher haben können. Aber indem du die Entscheidung auf die lange Bank geschoben hast, gingen alle Vorteile verloren. Nun musst du dich erst mühsam wieder nach oben kämpfen.
Beispiele aus der Wirtschaft? Unternehmen, die zu lange mit wichtigen Entscheidungen gewartet haben? Nun, das ist schwer. Denn die Unternehmen, die sich diesen Fehler leisteten, verschwinden vom Markt wie ein Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Sie gehen pleite. Sind weg vom Fenster. Werden aufgekauft. Vergessen. Grundig fällt mir da noch ein. Ein stolzes, selbstbewusstes Unternehmen. Wo Grundig draufstand, da war
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