Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
in die falsche Richtung investiert wurde. Sprich: Egal, wie hoch dein Engagement in der Vergangenheit war – sobald sich herausstellt, dass du ins Falsche investiert hast, ist es klar, dass nur eine Entscheidung richtig ist: Aufhören. Und einen anderen Weg einschlagen.
Wir haben nun schon zwei Gründe dingfest gemacht, die es uns so schwer machen, weittragende Entscheidungen zu treffen: das starrsinnige Festhalten an einmal gefassten Plänen und Zielen und die Angst davor, das bereits Investierte zu verlieren. Gibt es da noch mehr?
Wenn die Fußfesseln anfangen zu sprechen
Ein aus dem Urlaub in Südfrankreich heimkehrender Autofahrer hat seit den frühen Morgenstunden schon 800 Kilometer hinter sich gebracht. Jetzt sind es nur noch 40 Kilometer bis nach Hause. Er ist todmüde, zwei- oder dreimal ist er sogar in Sekundenschlaf gefallen und jedes Mal wieder hochgeschreckt. Er weiß genau, dass er jetzt besser noch einmal eine Pause einschieben würde. Aber er fährt weiter. »Ist doch nur noch eine halbe Stunde. Wär doch blöd, jetzt noch eine Rast zu machen.«
Wer unter Ankommeritis leidet, hat einen Tunnelblick, der jede vernünftige Erwägung in den Hintergrund drängt. Unbedingt ankommen wollen – auch das hat mit der bereits angesprochenen Zielfixierung zu tun. Sie beschreibt, dass die Tatsache, dass ich schon eine Weile unterwegs war, mich umso mehr vorantreibt. Aber nun kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Das Ziel selbst entfaltet eine magnetische Wirkung: »Ich hab doch schon so viel hinter mir. Dann schaffe ich das letzte bisschen doch auch noch!«
Je näher einer am Ziel dran ist, desto größer ist die Anziehungskraft, die von diesem Ziel ausgeht. Fast am Ziel zu sein und dann doch noch umzukehren oder eine Pause einzulegen, bedeutet eine geradezu übermenschliche Anstrengung. Auch Profis und Experten, die es eigentlich besser wissen müssten, tappen regelmäßig in diese Falle und bezahlen ihren Starrsinn nicht selten mit dem Leben. Taucher, die nicht rechtzeitig wieder auftauchen; Bergsteiger, die beim Aufstieg zu viel Zeit und Energie verloren haben und auf dem Abstieg verunglücken; Piloten, die entgegen der Empfehlung des Towers, auf einen anderen Flughafen auszuweichen, auf Biegen und Brechen landen wollen und die Maschine samt Passagieren in die Katastrophe lenken …
Sie starben entkräftet und durchgefroren – knapp unterhalb des Gipfels.
Im Juli 2008 starteten beim Zugspitz-Extremberglauf 585 Läufer. 16 Kilometer, 2100 Meter Höhendifferenz. Es regnete, die Temperatur war alles andere als sommerlich und der Wind biss. Nach einiger Zeit wurden Schneeschauer daraus. Plötzlich war die Laufstrecke mit 10 Zentimeter Schnee bedeckt. Im Juli! Manche Läufer brachen ihren Lauf ab. Andere machten weiter; in kurzen Hosen, ohne Mütze, in ärmellosen Hemden. Nichts konnte sie stoppen. Das Ergebnis: Sechs der Teilnehmer mussten im Garmisch-Partenkirchener Klinikum mit schweren Unterkühlungen behandelt werden. Zwei Läufer starben entkräftet und durchgefroren – knapp unterhalb des Gipfels.
»Die Sportler (haben) oben natürlich den starken Willen, den Lauf zu Ende zu bringen«, sagte der Mediziner Markus de Marees, der als Höhenphysiologe an der Deutschen Sporthochschule in Köln arbeitet, in einem Interview der Frankfurter Zeitung. Und genau das ist die Haltung: Was ich angefangen habe, bringe ich auch zum Ende. Diese Haltung ist es, die die Entscheidungskraft lähmt und verhindert, die Konsequenzen zu ziehen, die der Situation angemessen wären:
»Nein, ich werde nicht noch diesen interessanten Höhlenspalt untersuchen, sondern jetzt mit der notwendigen Sicherheitsreserve in meinen Druckluftflaschen wieder auftauchen.«
»Ich verzichte darauf, den Gipfel zu erreichen, sondern kehre lieber sicher und vor Einbruch der Dunkelheit ins Tal zurück.«
»Unter diesen Umständen hat es keinen Sinn mehr, in diesem Unternehmen zu bleiben; ich werde mich wegbewerben.«
Die richtige Entscheidung zu treffen hat viel mit Aushalten zu tun. Ich meine nicht: es aushalten, auch noch die letzten Kilometer runterzureißen oder die Zähne zusammenzubeißen, damit man auch noch die letzten Höhenmeter schafft. Sondern aushalten, sich an der aktuellen Situation zu orientieren. Die halbe Stunde Pause zu machen, auch wenn der Stalltrieb fast übermächtig ist. Fünfzig Höhenmeter unterhalb des Gipfels kehrtzumachen, um sicher ins Tal zu gelangen.
Aushalten musst du aber nicht nur, deine eigenen Pläne zu
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