Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
die Schuld abwälzen. Sondern zu ihnen stehen. Aus ihnen lernen. Und vor allem: Es irgendwann auch gut sein lassen. Nicht immer wieder hervorkramen und leiden wie ein Hund. Deinen Frieden mit dir machen. Produktiv weitermachen. Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weiterlaufen.
Wenn du das kannst, dann gehört die Welt dir. Sich selbst zu verzeihen ist so wie Verluste zu verschmerzen. Eigentlich ist es das Gleiche. Denn beides bedeutet: Loslassen. Es gut sein lassen. Den Blick nach vorne richten und nicht in der Vergangenheit verhaftet bleiben.
Klingt machbar. Solange es die eigenen Fehler sind …
Gnade!
Am 3. September 2010 haben die Eltern des zehnjährigen Mirco ihren Sohn zum letzten Mal lebend gesehen. Fast ein halbes Jahr verging, bis sie Gewissheit hatten: Ihr Sohn war tot. Ende Januar 2011 führte ein Mann aus dem Nachbarort die Polizei zu dem Waldstück, in dem er die Leiche des Jungen versteckt hatte.
Ein Kind zu verlieren, muss entsetzlich sein. Es auf diese grauenvolle Art zu verlieren, muss die Hölle sein. Viele Eltern würden sich mit dem Gedanken an Rache am Leben halten. Vielleicht träumen sie davon, den Mörder umzubringen, zu zerquetschen, kaputtzumachen. Die Justiz soll gnadenlos zuschlagen, bestrafen und Sühne einfordern. Gut, das kann hilfreich sein. Aber nur in der ersten Zeit.
Denn es geht doch gar nicht um den Verbrecher. Ob es ihm schlechter geht oder nicht, ist überhaupt nicht relevant. Es geht doch um diejenigen, die unter seiner Tat leiden! Ihnen soll es besser gehen.
Mircos Eltern sagen: »Wir legen den Fokus auf das, was wir haben, und nicht auf das, was wir verloren haben. Wir möchten, dass unsere anderen drei Kinder glücklich aufwachsen, trotz des Verlustes. Sie sollen eine ganz normale Kindheit haben.« Und der Stern titelte: »Mircos Eltern trauern – und vergeben dem Täter dennoch.« Vergeben? Wie kann das sein? Was ist in diese Leute gefahren?
Auch wenn es schwerfällt: Ich glaube, Mirkos Eltern haben recht. Die einzige Chance, über die Fehler, die Untaten anderer hinwegzukommen, ist Verzeihen. Was?! Eine jahrelang geschlagene Frau, ein zum Krüppel getretener Mann, ein missbrauchtes Kind sollen sich mit ihren Peinigern versöhnen?
Nein, um Versöhnung geht es nicht. Sich miteinander versöhnen heißt, den anderen in die Arme zu schließen, um mit ihm wieder ein Bierchen trinken gehen zu können. Ich sagte: Verzeihen. Das ist etwas völlig anderes als die Ich-hab-dich-jetzt-wieder-lieb-Versöhnung. Verzeihen hat auch nichts mit einer Schwamm-drüber-Haltung zu tun. Verzeihen ist unendlich viel mehr, als nur zu sagen: »Passt schon!«
Wenn du anderen ihre Fehler verzeihst, dann tust du genau das, was du auch gelernt hast mit eigenen Fehlern zu machen: Loslassen. Abschließen. Derjenige, der dich geschädigt hat, muss physisch gar nicht anwesend sein, wenn du ihm verzeihst. Denn um ihn geht es nicht. Sondern nur um dich. Du verzeihst nicht, damit es dem anderen besser geht. Sondern damit es dir besser geht.
Denn sobald du jemandem verzeihst, hat er keine Macht mehr über deine Gefühle. »Ich vergebe dir« klingt pathetisch. Aber eigentlich bedeutet es: »Du hast keine Macht mehr über mich.« So durchschneidest du das Band aus Hass, Groll und Wut, das dich an die Vergangenheit fesselt.
Natürlich ist dann noch lange nicht alles wieder gut – aber mit dieser Unabhängigkeitserklärung hast du einen ersten Schritt in Richtung »Weiterleben« getan.
Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Wenn es nur die falsche Haustür ist, die der Handwerker eingebaut hat, oder der Baufinanzierer, der dich falsch beraten hat, mag das mit dem Verzeihen und Vergeben ja noch angehen. Aber wie ist es, wenn dir wirklich schweres Unrecht widerfahren ist? Du wurdest misshandelt. Du wurdest von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Wegen Ärztepfusch musstest du Monate im Krankenhaus verbringen. Da kann man doch nicht einfach verzeihen!
Doch. Kannst du. Das musst du sogar, um irgendwann aus dem tiefen Tal des Kummers zu kommen. Es gibt eine Alternative zum Leiden bis ans Ende deiner Tage. Es gibt immer eine. Es fragt sich nur, wann du für diese Alternative bereit bist.
Ich bewundere Mircos Eltern sehr. Sie haben es geschafft, dass der Rest der Familie nicht auch noch zum Opfer der schrecklichen Tat geworden ist. »Es ist egal, ob ich zum Grab komme oder ob ich zuhause bin, der Verlust ist immer da. Er ist mal stärker und mal schwächer«, sagt Mircos Mutter. Doch bei allem
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