Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
kein Dauerzustand sein. Sie muss irgendwann ein Ende haben.
Das bist du schon deinen Mitmenschen schuldig. In der Psychologie gibt es den Begriff der Primärgefühle. Wenn du dir mit einem Hammer auf die Finger haust, verspürst du ein Primärgefühl. Wenn du dir aber nur vorstellst, wie es wäre, dir auf die Finger zu hämmern, ist das ein Sekundärgefühl. Ist eine Trauer frisch und echt, dann leiden wir mit. Kann sich der Trauernde aber gar nicht mehr vorstellen, nicht mehr traurig zu sein, hat sich die Trauer verselbstständigt. Wenn Trauer nicht mehr dazu dient, zurück ins Leben zu kommen, sondern zum Lebensinhalt geworden ist, dann ist sie zum Selbstzweck verkommen. So ein Sekundärgefühl geht der Umwelt meistens auf die Nerven. Dann heißt es: »Ich kann sein Gejammer nicht mehr hören!«
Mit dem Blick auf das Vergangene sitzt du mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.
Natürlich wird ein geliebter Mensch, den du verloren hast, für immer ein Teil deines Lebens bleiben. Aber bitte ein Teil deiner Vergangenheit, deiner Geschichte. Nicht ein bestimmender Teil deiner Zukunft. Denn so wäre es, wenn du in dem jetzt viel zu großen Haus wohnen bleibst, in dem du mit ihm oder ihr glücklich gewesen bist. Aus dem Gefühl heraus, Verrat zu begehen, wenn du das Haus verkaufen und dorthin ziehen würdest, wo es eine bessere Zukunft für dich gibt. Auch wenn dich nun nichts mehr in dieser Gegend hält, bleibst du. Warum baust du dann nicht gleich ein Mausoleum und mauerst dich darin ein?
Trauern, ohne irgendwann loszulassen, ergibt keinen Sinn. Denn je weniger von deiner Vergangenheit du abgeschlossen hast, desto mehr Ballast schleppst du mit dir herum. Wenn du die Verluste, die du erleiden musstest, nicht verwinden kannst, nehmen sie immer mehr Raum in deinen Gedanken ein. Sie lassen dich nicht mehr los. Sie wirken wie ein starkes Gummiband, das mit dem einen Ende in der Vergangenheit befestigt ist. Am anderen Ende hängst du. An diesem Gummiband zappelnd lässt du dein jetziges Leben von längst vergangenen Dingen bestimmen.
Der entscheidende Schritt, der die Trauerphase vom endgültigen Loslassen trennt, ist die Erlaubnis, deine Trauer hinter dir zu lassen. Mit einem Ritual wie dem Trauerjahr als Hilfe wäre das einfach. Aber so funktioniert das heute nicht mehr. Es gibt nur einen, der dir diese Erlaubnis geben kann: Du selbst. Wenn du das verstanden hast, werden dich Verluste zwar immer noch hart treffen. Aber sie sammeln sich nicht wie Steine in deiner Tasche, die dich früher oder später auf den Grund des Meeres ziehen.
Akzeptieren, trauern, abschließen – wenn du das kannst, wird es dir leichter fallen, auch in anderen Lebensbereichen loszulassen.
Zum Beispiel, wenn es um deine eigenen Fehler geht.
Ganz unten
Die Maschine ist im Landeanflug. Die Flugbedingungen sind ideal, die Sicht klar, der stete Wind kommt direkt von vorn. Bernd ist kurz davor, seinen Pilotenschein zu machen. Er ist ein netter Kerl. Und im Cockpit ruhig, verantwortungsvoll, gelassen. Aber heute ist er ganz schön unkonzentriert. Ich habe schon ein paar Mal eingreifen müssen, damit wir nicht in Gefahr geraten. Jetzt drückt Bernd den Steuerknüppel noch weiter nach vorn. Gleich wird das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzen. Ich überlege noch, ob ich korrigieren soll, denn so wie Bernd es heute angeht, wird das eine ganz schön harte Landung. Aber ich denke: Lass mal. Das wird ihm eine Lehre sein.
Und da passiert es auch schon: Der Aufprall ist so hart, dass unsere Bandscheiben aufjaulen. Das Flugzeug macht noch mehrere Hopser, bevor es mit quietschenden Reifen, schlingernd und schleudernd am Ende der Landebahn zum Stehen kommt. Ich habe schon lange nicht mehr eine so grottenschlechte Landung erlebt. Ich weiß genau, was jetzt im Flugcafé neben dem Tower los ist, und grinse. Da hängen wie an jedem Sonntagmittag die ganzen Flieger herum und fachsimpeln. Unsere Landung kommt ihnen gerade recht, um die Langeweile zu vertreiben. Sie wird ihnen noch lange Gesprächsstoff bieten.
Bernd schämt sich in Grund und Boden. Sobald die Maschine steht, dreht er sich mit hochrotem Kopf zu mir und sagt: »Ich habe keine Ahnung, wie mir das passieren konnte. Ich höre auf. Ich kann es eben nicht. Ich rühre im Leben keinen Steuerknüppel mehr an.«
Ich kann verstehen, dass er am liebsten gar nicht mehr aus der Maschine aussteigen würde. Das Gefühl kenne ich. Nach so einer misslungenen Aktion wäre man am liebsten unsichtbar. Aber Bernd meint das
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