Hüftkreisen mit Nancy
Gegend umher, «von Ihrer Familie, von Ihrer Mutter, Ihrem Vater, Ihren Lieben …»
Die Wahrheit war heute Morgen auf Zehenspitzen zum Kleiderschrank getippelt und hatte lange im Wäschefach gestöbert, um mir im Raubtierkostüm ihre Aufwartung zu machen. Die Wahrheit wollte mir heute das Genick durchbeißen, und dafür war es der passende Aufzug.
«Vielleicht hat sich Ihnen unbewusst mitgeteilt, dass es gefährlich ist, gerade zu stehen, und Sie haben Ihr Becken zurückgenommen, damit Ihre Lieben sehen konnten, dass Sie verstanden haben.»
«Das klingt sehr, sehr unwissenschaftlich», sagte ich trotzig. Aber ich wusste schon länger, dass meine Muttersich immerzu Sorgen gemacht hatte. Nicht nur, ob das Wetter bis zum Nachmittag «halten» würde, wenn die Wäsche draußen war, ob Tante Gerda «was Ernstes» hatte, ob Vater von der «Versammlung» sicher heimkommen würde (die Sorge war unbegründet: Normalerweise schleppten sie ihn zu zweit oder zu dritt und warfen ihn, während er seine Kollegen saftig abknutschte und sie gleichzeitig als «ausgemachte Hallodris» beschimpfte, aufs Bett, wo sie ihn bloß noch auskrempeln musste), manchmal hielt meine Mutter auch nur inne, sie stand am Küchentisch und rollte Teig aus, und ihr Blick entglitt ins Nichts, dann wieder hockte sie sich vor mich hin und nahm mich bei den Schultern und sagte, ich würde sie nochmal ins Grab bringen mit meinen Dummheiten (ich hatte ein Hakenkreuz auf die Tafel gemalt, allerdings, wie mein Vater und der Direktor bei der Tatortbegehung fachmännisch feststellten, falsch herum). Was Nancy nicht wusste, war, dass meine Mutter mit dem Treck aus Ostpreußen hierhergekommen war und dass das Schicksal ihrer Mutter, meiner eigentlichen Großmutter, unausgesprochen blieb, solange ich noch ein Kind war, weil ich «es noch nicht verstehen würde». Später, als ich kein Kind mehr war und erfuhr, wie meine Großmutter auf einem Feld in Ostpreußen zu Tode gekommen war, «verstand» ich es allerdings auch nicht. Im Grunde gab es nichts zu «verstehen», außer dass meine Mutter alle Gründe hatte, mit größter Sorge und schlecht beherrschter Furcht auf die Welt zu sehen. Dass diese Zeit gleich quer durch die Generationen die Leute krumm schlug, leuchtete mir ein.
«Und wenn das Becken erst mal schief steht», fuhr Nancy fort und drehte sich so auf dem Tresen, dass sie nun ganzvor mir saß und mit den Beinen baumelte, «gerät die Wirbelsäule aus dem Lot, und dann kostet das bloße Herumstehen Kraft. Auch wenn Sie das vielleicht nicht wollen, Sie wirken immer ein wenig erschöpft.»
«Das würde vieles erklären», meinte ich und fügte schmallippig an: «Zu vieles.»
«Sie müssen mir nicht glauben. Beckenfehlstellungen wirken auch, wenn man nicht dran glaubt.»
«Du meinst, während ich tolle Reden schwinge und gut drauf bin, macht mein Körper dauernd hinter meinem Rücken den Leuten geheime Zeichen?»
Nancy dachte nach und sagte dann: «So ungefähr.»
Ihre Füße steckten in Leopardenfellpantoletten. Das Ganze war so unwirklich, wie man es sich nur wünschen konnte. Oben schrien Rodscher und Matze Meikel an: «Los, einen noch, einen schaffst du noch! Los, drück, du Sau!» Was Meikel aber falsch verstand, wie man gleich darauf hören konnte.
An der Seite von Nancys weißer Jerseyhose zeichnete sich der Abdruck einer Schleife ab. Was habe ich in Bibliotheken an Zeit verloren! Schnürhöschen in Leopardenfelloptik werden die Welträtsel lösen! «Du bist mir ja eine. Ich dachte immer, mein Leben sei sinnlos, dabei war es nur eine Beckenfehlstellung.»
«Ach, Sinn», sagte Nancy, «das ist doch zwanzigstes Jahrhundert.»
Ich nahm meine Tasche und sagte: «Tschüss, Nancy!»
Und Nancy sagte: «Tschüss, Herr Krenke!»
Beim Hinuntergehen kam mir ein Mann mittleren Alters mit perfekt graumeliertem Haar entgegen, ohne zu grüßen. War ja klar. Ich blieb stehen und kippte mein Becken vor undzurück und wieder vor, als würde ich mich an- und ausschalten. «Alles in Ordnung?», rief der Mann von anderthalb Treppen über mir herunter. Ich winkte ein Okay.
Heute Abend würde Nancy an den Schleifen ziehen.
Nach dem Training fuhr ich mit dem Fahrrad in die Stadt. Ich wollte nicht, dass Dorit mich tagsüber in der Wohnung antraf. Ich hatte mir ein bulliges Mountainbike mit Alurahmen gekauft, das man leichten Fußes Treppen hoch- und runtertragen konnte, was mir, wie ich fand, die dynamische Ausstrahlung eines Fahrradkuriers verlieh. Das
Weitere Kostenlose Bücher