Hüftkreisen mit Nancy
seinen Handlungsspielräumenaber tatsächlich bis zur Bewegungsunfähigkeit eingeschränkte Ministerpräsident eigentlich «garantierte». Rosstäuscher betrieb nach Angaben seiner Öffentlichkeitsarbeiter eine «Politik mit Augenmaß», was aber mit Pi mal Daumen besser umschrieben wäre. Finanzskandale und Subventionsruinen legten nahe, dass der Ministerpräsident dem Prinzip Hoffnung den Vorrang einräumte vor präziseren Kontroll- und Prognoseinstrumenten. Rosstäuscher war schnell zu begeistern und glaubte dementsprechend fest daran, dass Begeisterung das war, was dem Land am allermeisten fehlte.
Ich kannte ihn ein bisschen. Ich hatte einen Dreißigminüter für den Landfunk fabriziert, der die ersten hundert Tage des Ministerpräsidenten resümierte. Ein mehrfach umgeschnittenes Stück, in das viele «Wünsche» mit eingeflossen waren. «Wichtig ist», hatte Chef zusammenfassend gesagt, «dass unsere Zuschauer Rosstäuscher als Menschen erleben. Nicht als nüchternen Fachmann und auch nicht als abgebrühten Politprofi.»
Das verstand sich von selbst, denn beides war er leider überhaupt nicht.
Allerdings hatte ich mir während der Dreharbeiten eingestehen müssen, dass Rosstäuscher ein schlimmer Sympath war. Manchmal blickte er mitten im Gespräch mit einem Abgeordneten, einem Minister oder einer Kantinenfrau zu mir her und winkte zweimal kurz mit den Augenbrauen ein kleines ‹Ich weiß, dass ihr da seid!›, während ich ihm hinter dem Kameramann neutral freundlich zurücknickte. Ich erinnerte mich, wie wir gefilmt hatten, als er einmal auf der Straße von einem wirren alten Mann bespuckt wurde. Rosstäuscherhielt seine dazwischendrängende Entourage zurück, putzte sich ab, arbeitete kurz an seiner Fassung und bestand dann darauf, dass diese Szene ungeschnitten in den Film käme. Er blickte direkt in die Kamera und sagte: «Ja, auch so etwas muss eine Demokratie aushalten!» Unbestreitbar war: Werner Rosstäuscher liebte die Politik. Wie er im Landtag federnden Schrittes auf das Rednerpult zuging, wie er sein Manuskript mit kurzen Fingerstößen zurechtschob, wie er nach links schalt und nach rechts bestätigte und pries, das hatte Schmackes. «Einer von uns!» hieß die Losung, mit der er damals das höchste Amt errang, und er war tatsächlich einer von allen. Keine Landesfeuerwehrspiele, wo er nicht einen Schlauch mit ausrollte, keine Tierleistungsschau, wo er nicht ein Ferkel auf dem Arm hielt, keine Großbäckereieröffnung, wo er nicht eine Kirsche von der Sahnetorte stibitzte. Nie wirkte er linkisch oder verlegen, all das war ihm wirklich ein Bedürfnis. Meine Gedanken stoppten, witterten um sich herum.
«Was ist ein Garant, Papa?»
Ich blieb stehen.
«Papa? Was ist ein Garant?»
Ich drehte mich um. Das Plakat, ein ganzes Stockwerk breit und hoch, spannte sich vor dem Gerüst eines im Umbau befindlichen Hauses. Es schaute mitten auf die Kreuzung, dominant, unübersehbar. Ein perfekter Ort für Wahlbotschaften. Die anderen Bewerber mussten mit den schlechteren Plätzen vorliebnehmen. Aber wo waren eigentlich …?
«Papaaa?»
Mir wurde schwindlig. Es war überhaupt kein Wahlkampf. Vor Verwirrung vergaß ich, meine Beine ordnungsgemäß voreinanderzusetzen, und geriet ins Stolpern. Das Plakatwar eine Singularität. Was sollte das? Unwillkürlich nahm ich Mascha an die Hand und sah mich um. «Ein Garant? Das ist so ein Wort … ach … Mascha?»
«Ja, Papa?»
Ich kniete mich vor Mascha hin. «Siehst du das Plakat?»
«Ja!»
«Das meine ich nicht. Ich meine, ob du es wirklich siehst?»
«Ja doch. Wie soll man das Plakat denn sonst sehen? Papa, ist dir nicht gut?»
«Nein, äh. Schon gut. Ich, Kleines, ich hatte was im Auge.»
«Lass mal gucken», sagte Mascha und pulte in meinem Auge herum. Sie würde eine gute Mutter werden. Genau so, wie ich es mochte: unaufgeregt, praktisch, zugewandt, liebevoll, schnörkellos. «Da ist nix, Papa.» Ich erhob mich. Mascha sprang wieder auf die Rasenkantensteine und balancierte mit wackelnden Armen los. Ich wollte ihr meine Hand geben, aber die brauchte sie nicht. Sie brauchte auch keine Erklärung mehr. Vielleicht dachte sie, dass es besser war, nicht zu wissen, was ein Garant war, wenn das so etwas auslöste. Ich ging ein paar Schritte und drehte mich noch einmal um. Das Wahlplakat war noch da. Riesengroß strahlte Werner Rosstäuscher in völlig unbegründeter Zuversicht über den Platz.
Bei Sartre war es so, dass er immer zuerst dachte,
Weitere Kostenlose Bücher