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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Schritte. Wir erschraken beide, blieben stehen und fuhren herum, nur um von einer spindeldürren, jungen Frau überholt zu werden, die Kopfhörer trug und schwer atmete. Wir setzten uns wieder in Bewegung.
    »Wie ist es nur dazu gekommen?«, fragte ich.
    Jack gab keine Antwort, sondern schüttelte nur bedächtig den Kopf. Wir liefen schnell, waren nervös und wussten nicht, was uns erwartete oder was wir tun würden, wenn wir dort ankamen.
    »Du hast ihn nicht leiden können. Linda auch nicht. Okay. Aber das ? Hättest du ihm das zugetraut?«
    »Linda konnte ihn nicht leiden?« Er wirkte erfreut.
    »Jack«, keifte ich, »antworte mir!«
    »Nein. Nein, das nicht. Natürlich nicht. Wer hätte sich das vorstellen können?« Jack überholte, drehte sich dann um und stoppte mich. Children’s Gate war nur noch zwei Häuserblocks entfernt. Jack streckte eine Hand aus.
    »Gib mir den Revolver«, sagte er in sachlichem, selbstbewusstem Ton. Er war der Mann, er sollte die Waffe tragen. So einfach war das.
    »Nein«, entgegnete ich und schob mich an ihm vorbei. Er packte meinen Arm und ließ selbst dann nicht los, als ich mich wehrte.
    »Jack«, sagte ich und spürte Wut in mir aufsteigen. »Lass mich los.«
    Ich versuchte mich loszumachen, aber Jack hielt mich weiter fest.
    »Ich meine es ernst«, sagte ich. »Lass mich los.«
    »Isabel, komm runter«, meinte er sanft. »Ich bin’s.«
    Ich schaute ihm ins Gesicht, und meine Wut verflog. Nur ein Blickkontakt genügte, um mich zu beruhigen. Ich spürte, wie angespannt ich war.
    »Wir brauchen einen Plan, eine Taktik.«
    »Unmöglich.«
    »Warum?«
    »Wir haben keine Erfahrungswerte. Keinem von uns ist so was je passiert.«
    Wir gingen weiter. Jack hielt mich immer noch am Arm fest, so als fürchtete er, ich könnte jeden Moment ausreißen. »Wir sollten uns wenigstens überlegen, was wir ihm sagen«, meinte er vernünftigerweise.
    Doch es war zu spät. Wir entdeckten ihn, er lehnte an der niedrigen Steinmauer. Allein seine Blicke - verstohlen, nervös - verrieten mir, dass er derjenige war, mit dem Camilla Novak sich verabredet hatte. Ich war mir sicher.
    Jack ließ mich los, aber er blieb so dicht hinter mir, dass ich seine Anwesenheit spüren konnte. Wenn ich heute an diesen Moment zurückdenke, kann ich mich nur darüber wundern, wie naiv wir waren. Wir New Yorker glauben, die ganze Welt gehöre uns, und aufgrund unserer räumlichen Nähe zum Verbrechen wüssten wir Bescheid - selbst wenn wir eine sehr behütete Kindheit hatten. Unser internationales Image als abgebrüht und clever hat uns selbst überzeugt. Wir glauben tatsächlich, wir könnten eine Waffe in die Hand nehmen und einen Schläger auf der Straße zur Rede stellen.
    Ich ging direkt auf den Fremden zu, der vom Boden aufsah und mich musterte. Er war klein und neigte zur Glatzenbildung. Sein pockennarbiges Gesicht war von der Kälte gerötet. Sein Blick wirkte feindselig und gehässig.
    »Camilla Novak ist tot«, sagte ich ohne Umschweife. Meine Hand lag auf dem Revolver in der Tasche. »Ich habe, was Sie wollen.«
    Er schaute mich verständnislos an und drückte sich von der Wand ab. Sein Blick schoss zu Jack hinüber, dann zu der Ausbeulung in meiner Tasche. Er schätzte die Lage ein.
    »Ich habe ein paar Fragen«, fuhr ich in arrogantem Ton fort. »Wenn Sie sie beantworten, gebe ich Ihnen die Dateien.«
    Plump? Ja. Kurzsichtig? Auf jeden Fall. Ich hatte mir alle möglichen Szenarien ausgemalt: einen Kampf, eine klischeehafte Unterhaltung, an deren Ende ich bekam, was ich wollte, selbst wenn ich nicht genau wusste, was das war; den Gebrauch der Waffe, angesichts derer er sich erschreckt ducken würde; einen Angriff seinerseits. Aber was nun passierte, überraschte mich sehr. Einen Augenblick lang passierte gar nichts, und ich spürte, wie Jack mich zurückziehen wollte.
    »Wer ist Kristof Ragan?«, fragte ich, obwohl mir das Herz bis zum Hals klopfte und das Adrenalin durch meinen Körper jagte, bis der Revolver in meiner Hand zu zittern anfing. »Wo kann ich ihn finden?«
    Der Mann lachte kurz auf. »Sie machen Fehler. Ich verstehen nix.«
    In einem kurzen Moment des Selbstzweifels fühlte ich mich albern und dumm. Aber nein. Das war die Stimme vom Telefon - derselbe barsche Ton, derselbe Akzent.
    »Tatsächlich?«, sagte ich. Ich zog Camillas Handy aus der Tasche, suchte nach der letzten Nummer und drückte auf anrufen . Das Klingeln in seiner Hosentasche - irgendeine Popmelodie - schien ihn zu erschrecken.

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