Huete dich vor deinem Naechsten
gerichtet, eine Hand auf der Tastatur, und scrollte die etwa fünfzig oder sechzig Schwarz-Weiß-Fotos durch.
Vier Männer standen an der Kante eines Schiffsanlegers in einem losen Grüppchen zusammen, die Hände in den Taschen und die Schultern hochgezogen. Drei von ihnen trugen einen langen, schwarzen Mantel. Das Wasser im Hintergrund wirkte grau und kabbelig. Der vierte Mann schien nur einen Anzug zu tragen. Er hatte die Schultern hochgezogen und sich die Arme um den Leib geschlungen. Offenbar war ihm kalt. Im nächsten Bild legte ihm einer der Männer im Mantel eine Hand an den Arm, im übernächsten Bild zog er eine Schusswaffe. Die grobkörnigen, düsteren Fotos bildeten den Vorgang im Sekundentakt ab. Fast konnte ich den Kameraverschluss rattern hören. Das nächste Foto war ein Zoom, und mit Schrecken erkannte ich zwei Gesichter: Ivan und Marcus. Ivan hielt die Waffe. Marcus wurde von einem anderen Mann festgehalten.
»Ist das Marcus?«, fragte Jack ungläubig.
Aber ich hatte meine Stimme verloren. In meinem Kopf hörte ich die Schreie, das entsetzliche Jaulen, und meine Nackenhaare sträubten sich. Während Jack immer schneller durch die Bilder klickte, konnten wir verfolgen, wie Marcus seine Hand an den Arm legte, der ihn festhielt, und ihn mit einer schnellen, energischen, geübten Bewegung verdrehte, so dass der Mann auf die Knie ging und dann mit weit aufgerissenem Mund am Boden liegen blieb. Die Kamera hatte das Mündungsfeuer von Ivans Waffe eingefangen, aber im nächsten Bild befand sich die Waffe in Marcus’ Hand. Im nächsten Foto lag der zweite Mantelmann am Boden, und nur noch Ivan und Marcus standen. Zwei Bilder lang stand Ivan mit flehentlich erhobenen Händen vor Marcus, im nächsten lag auch er am Boden. Marcus fing an, die Leichen in den Fluss zu rollen. Der Anleger war blutverschmiert. Dann waren wieder nur Marcus und Ivan zu sehen. Der Riese lag zusammengekrümmt und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Seite und hielt sich den Bauch, Marcus stand über seinen Bruder gebeugt und hielt ihm die Waffe an den Kopf. Dann ließ er sie sinken. Die Kamera hatte festgehalten, wie er sich langsam entfernte und Ivan schreiend vor Schmerzen oder vor Wut - oder beidem - liegen ließ.
»Izzy«, sagte Jack, nachdem wir eine Weile sprachlos den Monitor angestarrt hatten, »alles in Ordnung?«
Ich beugte mich vor und sah, wie Marcus seelenruhig davonspazierte und zwischen zwei Lagerhallen verschwand. Er trug denselben Anzug wie an dem Tag, als er mich verlassen hatte.
»Er hat zwei Menschen ermordet«, sagte Jack mit einem erstickten Flüstern. »Und den dritten sterbend liegen lassen.«
Ich versuchte, mich gegen eine Welle aus Kummer, Grauen und Angst zu wehren. Ließ mich treiben wie in einem Wildwasser, andernfalls wäre ich ertrunken.
»Wo hat sich das deiner Ansicht nach zugetragen?«, fragte ich. Jack beugte sich weiter vor, bis ich den Seifenduft seiner Haut riechen konnte, der sich mit dem Wodkageruch seines Atems vermischte. Er tippte auf den Bildschirm. Im Hintergrund erkannte ich die Verrazano Narrows Bridge.
»Brooklyn«, erklärte er, »irgendwo zwischen Bensonhurst und Coney Island.«
»Du hattest recht«, sagte ich, ohne es wirklich zu meinen. »Das hätten wir uns besser nicht angesehen.«
»Hör immer auf deinen Agenten«, meinte Jack. Er versuchte, mir Mut zu machen, aber er klang eher traurig und ein bisschen verängstigt.
Ich kopierte die Fotos auf Jacks Computer, zog den USB-Stick heraus und steckte ihn ein. Jack stand mit verschränkten Armen daneben und beobachtete mich. Ich ging zur Tür und drehte mich zu ihm um.
»Jetzt kommt die Stelle, an der ich dich bitte, mich nicht zu begleiten. Tu mir den Gefallen. Ich möchte, dass du hier in Sicherheit bist und die Polizei anrufst, falls ich nicht zurückkomme oder anrufe.«
Jack stieß einen tiefen Seufzer aus und sah mir in die Augen.
»Ich hatte gehofft, du erkennst spätestens an dieser Stelle, dass wir uns nicht in einem Roman befinden. Dass der Schrecken und die Gefahr echt sind, dass du verletzt und vor Kummer verrückt bist, dass du dich hinlegen und von mir umsorgen lassen solltest.«
Bei diesem verlockenden Gedanken musste ich lächeln. »In dem Fall wäre ich nicht ich.«
Er nickte. »Und ich wäre nicht ich, wenn ich dich allein gehen ließe.«
Er half mir in meinen Mantel. Ich sammelte Camillas Sachen zusammen und warf sie zusammen mit dem USB-Stick in ihre Tasche, die ich mir um die Schulter hängte. Meine
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