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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Verärgert schaute er an sich herunter. Dann rannte er an uns vorbei wie ein Footballspieler, riss mir die Tasche von der Schulter, schubste mich auf den harten Asphalt und Jack an die Mauer und setzte zu einem unglaublich schnellen Spurt in den Park an. Jack und ich schauten uns schockiert an. Ich rappelte mich auf und rannte dem Mann hinterher.
    »Bist du verrückt?«, schrie Jack.
    »Er hat die Tasche!«, rief ich, so als wäre das ein Grund, mein Leben aufs Spiel zu setzen.
    Ich rannte den asphaltierten Weg entlang, vorbei an den altmodischen Laternen und Parkbänken, aber als ich die erste Weggabelung erreichte, war der Mann nicht mehr zu sehen. Hinter mir tauchte Jack auf. Er hielt die Reste von Camillas Mobiltelefon in der Hand, das bei meinem Sturz auf dem Boden zerschellt war. Meine Frustration hätte mich auf die Knie sinken lassen, hätte ich nicht plötzlich ein Krachen gehört, das die Stille zerriss. Im nächsten Moment war Jack bei mir und zog mich hinter einen großen Felsblock neben dem Spazierweg. Ich hörte zwei weitere Schüsse krachen und die Alarmanlage eines Autos, die die Nachtluft mit einem klagenden Jaulen erfüllte.
    Wir kauerten uns stumm aneinander, bis der Fremde in unser Sichtfeld torkelte. Er schaffte noch ein paar Schritte, bevor er mit einem schrecklichen Stöhnen auf den Bauch fiel. Ohne nachzudenken verließ ich mein Versteck hinter dem Felsen, um mich neben ihn zu knien und seine Schulter zu berühren. Er redete mit mir, murmelte etwas in einer Sprache, die ich kannte, aber nicht verstand. Ich beugte mich vor, nahm Jack hinter mir kaum wahr, der mich am Arm zog. Er sagte: »Isabel, da kommt jemand. Der Kerl wurde erschossen, und jetzt sind sie hinter uns her.«
    Aber ich hörte ihn nicht. Ich lauschte dem Geflüster des Sterbenden.
    »Wer ist Kristof Ragan?«, fragte ich. »Wo ist er? Bitte!«
    Ich hatte keinen Grund zu glauben, dass er die Frage beantworten könnte. Und es war blinder Egoismus - vielleicht sogar verwerfliche Gleichgültigkeit -, an diesen Menschen, der auf dem kalten Asphalt des Central Park verblutete, auch noch fordernde Fragen zu stellen. Aber für mich hing alles davon ab, und außer diesem Fremden gab es niemanden, den ich hätte fragen können. Von seinen letzten, gemurmelten Worten, die in einem grauenhaften Gurgeln erstickten, verstand ich nur ein einziges. Ob es die Antwort auf meine Fragen war, würde ich erst später erfahren.
    Er sagte: »Praha.«
    Prag.
    Die magische Stadt mit den roten Dächern, der mächtigen Burg und den dunklen, versteckten Plätzen. Sie hatte mein Herz erobert, als ich zum ersten Mal über ihre Kopfsteinpflasterstraßen spazierte und ihre fantastische Architektur bewunderte. Ich saß in den Stammcafés von Franz Kafka und träumte von ihm. Wie ich die Stille vor dem Morgengrauen genossen hatte, die einzige ruhige Zeit auf der Karlsbrücke mit ihren jahrhundertealten Steinfiguren von schwermütigen Heiligen. Beim zweiten Mal liebte ich die Stadt noch mehr, denn ich besuchte sie mit meinem zukünftigen Mann. Ich spürte, wie sie ein Teil von mir wurde, als ich Marcus heiratete, ein Teil von uns und von den Kindern, die ich eines Tages vielleicht zur Welt bringen würde. Als ich Prag zum dritten Mal besuchte, versuchten seine Geheimnisse mich zu verschlucken. Aber das wusste ich noch nicht.
    Damals kam es mir logisch vor. Natürlich, er war nach Hause geflüchtet. Wie lange war es her, dass ich ihn in Camillas Apartment gesehen hatte? Zwei, vielleicht drei Stunden. In der Zwischenzeit könnte er problemlos ein Flugzeug bestiegen haben, oder? Vielleicht gab es eine Zwischenlandung in London oder Paris. Und dann würde er den Ort wiedersehen, der ihn hervorgebracht hatte.
    Als ich meinen Blick von dem Mann abwendete, dessen Namen ich nie erfahren hatte, entdeckte ich sie nur etwa dreißig Meter entfernt von uns - die Frau, die ich nur als »S« kannte. Ihr Gesichtsausdruck war seltsam, als sie mich sah. Wieder hörte ich Detective Breslows Worte . Jede Menge Spuren einer blinden Zerstörungswut. Sie hasste mich. Sie beneidete mich. Ich konnte es von ihrem makellosen Gesicht ablesen. Warum? Weil er mich geliebt hatte? Sie besaß doch jetzt alles, oder? Meinen Mann, mein Geld, sogar meinen Ring.
    Sie wirkte wie eine ganz normale New Yorkerin, die spätabends durch den Park joggt, außer dass sie sich Camillas Handtasche quer umgehängt hatte. Sie trug schwarze Leggings und eine kurze, weiße Jacke mit schwarzen Streifen an den Ärmeln.

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