Huete dich vor deinem Naechsten
Menschenmenge finden können?« Oder: »Warum hat sie das getan, was war ihr Motiv? Das ergibt keinen Sinn.«
Er hatte eine Vorliebe für lineare Abläufe, logische Zusammenhänge und Motive, die keine Fragen offen ließen. Mir hingegen gefielen Brüche in Zeit und Perspektive. Die kleinen Details - wie das Fenster aufgebrochen wurde, mit welchem Fahrzeug eine Figur von A nach B kam - langweilten und ärgerten mich.
Mich bewegt das Wesen der Dinge, die Aura der Personen und ihre Handlungen. Ich will nicht langatmig beschreiben, wie die Vase auf den Fußboden kam. Wurde sie fallen gelassen? Geworfen? Ich will nur die scharfen, funkelnden Scherben auf dem Marmor zeigen. Denn so ist das Leben. Nicht alles lässt sich erklären. Manchmal wissen wir einfach nicht, wie die Vase auf den Fußboden gelangte; wir wissen nur, dass sie unwiederbringlich kaputt ist.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«, sagte Jack. Er schloss den Reißverschluss des Seesacks und stellte ihn an die Tür. Dann setzte er sich ans Fußende des Betts. »Worum geht es dir?«
»Das Gespräch hatten wir bereits. Du weißt, worum es mir geht.«
»Willst du Rache? Oder Gerechtigkeit? Was willst du tun, wenn wir ihn gefunden haben, falls wir ihn überhaupt finden? Mit welchen Mitteln willst du dein Recht durchsetzen?«
Ich antwortete nicht und starrte an die Decke. Er erwartete keine Antwort. Er war einfach so. Lass es einfach sacken, pflegte er zu sagen.
»Oder geht es dir ums Wie und Warum, Isabel? Musst du es wissen und verstehen, um weitermachen zu können?«
Ich fühlte mich immer noch nicht genötigt zu antworten.
»Denn ich bin dein Freund. Ich helfe dir. Ich kaufe die Flugtickets. Ich werde ins Flugzeug steigen und dich begleiten, wohin du willst. Aber lass uns bitte sicherstellen, dass wir es aus guten Gründen tun.«
»Was macht einen Grund gut?«, fragte ich.
»Wenn es die Sache wert war, egal, wie viel schiefgeht und was wir zerstören. Wenn es dir so viel bedeutet, dass es sich lohnt, das Risiko einzugehen.«
Ich betrachtete sein Profil, seine Adlernase. Auf einmal wirkte er sehr müde. Ich schaute mich um und bemerkte, dass auch dieses Zimmer sparsam möbliert war, wie sein Büro. Ein einsamer Futon, bezogen mit dem feinsten Leinen. Die Wände waren weiß, der Fußboden aus Holz. Wo bewahrte er seine Sachen auf? Zeitschriften und Schmutzwäsche, Fotografien, Rechnungen? Ich erinnerte mich an sein Zimmer im Studentenwohnheim - der reinste Saustall. Seit wann war er so ordentlich, so organisiert?
»Mein Vater hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen«, sagte ich. Obwohl Jack über meinen Vater Bescheid wusste, hatten wir nie über diesen Teil meiner Vergangenheit geredet. Dabei hatte ich ihn in meinen Büchern wieder und wieder thematisiert. Jack war ein aufmerksamer Leser; wahrscheinlich verstand er mein Problem besser als jeder andere, vielleicht sogar besser als ich selbst. Für Jack war ich ein offenes Buch.
»Okay, Isabel«, sagte er leise, »ich verstehe.«
»Du musst nicht mitkommen.«
»Das weiß ich.«
Er ging zur Tür, und ich raffte mich mühsam auf.
»Aber eins musst du tun, bevor wir gehen«, sagte er, »und darüber wird nicht verhandelt. Eigentlich sind es sogar zwei Dinge.«
»Was?«
»Erstens: Ruf deine Schwester an. Zweitens: Schreib dem Detective eine E-Mail mit allem, was du ihm verschwiegen hast. Mache ihm klar, dass du auf seiner Seite stehst. Vielleicht kommt es dir zugute. Vielleicht bekommst du sogar, wonach du suchst - Antworten.«
Ich spielte mit dem Gedanken, mich zu weigern, aber mir wurde mit einem Blick in sein Gesicht klar, dass er es ernst meinte. Außerdem war ein kleiner Teil von mir immer noch in der Lage, einen guten Vorschlag als solchen zu erkennen. Ich tat, was Jack verlangte. Ich hinterließ meiner Schwester eine Nachricht, weil sie zu meiner großen Überraschung nicht ans Handy ging. Und ich schrieb eine lange E-Mail an Detective Crowe, in der ich ihm alles mitteilte, was ich erfahren hatte, inklusive der E-Mail von Camilla und der wahren Identität meines Mannes. Dann fuhren Jack und ich zum Flughafen, auch wenn ich nicht sicher wusste, ob das eine gute Idee war oder ob meine Gründe von der guten Sorte waren.
Ich zappelte, rutschte auf meinem Sitz herum und war nicht in der Lage, mich zu entspannen oder es mir gemütlich zu machen. Vor mir schienen endlose Stunden zu liegen; ich würde das andere Ufer nie erreichen. Ich wartete darauf, dass die hübsche Flugbegleiterin mich
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