Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
Vom Netzwerk:
stirnrunzelnd ansah und dann zum Telefonhörer griff, um den längst fälligen Anruf zu tätigen. In gewisser Hinsicht wünschte ich es mir fast. Aber sie lächelte nur und brachte mir ein Glas Champagner, das ich in zwei Zügen leerte.
    »Langsam«, sagte Jack. »Deine Kopfwunde benebelt dich schon genug.«
    Ich hob mein Glas, und die Flugbegleiterin schenkte mir nach. Auch das zweite kippte ich in zwei Schlucken hinunter. Jack machte sich nicht die Mühe, mich weiter zu ermahnen. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
    Ich hatte nichts weiter als den Geburtsnamen meines Mannes, den Namen einer Ortschaft in der Nähe von Prag und die vage Vorstellung, dass es Marcus dorthin ziehen würde. Ich dachte an unseren letzten Kuss, an die grauenhaften Schreie, die Frau auf der Webseite der Zeitarbeitsfirma. Ich dachte an den sterbenden Mann und seine letzten Worte. Und obwohl das alles in den dunklen Gewässern meines Verstandes herumschwamm, ließ der Champagner mich endlich einschlafen. Ich träumte von meinem Vater.
     

DRITTER TEIL
    ERLÖSUNG
     
     Denk dir einen Tunnel aus Stein
  Dunkel, verlockend, ein Schwall Wände
  Geh hindurch, ohne zu blinzeln.
    James Ragan, Der Hungerwall
     
     

EINUNDZWANZIG
    S chweigend fuhren sie nach Queens, ein jeder in seine Gedanken versunken. Grady ging immer wieder das Telefonat mit Sean durch und fühlte abwechselnd Hoffnung und Verzweiflung. Vielleicht hatte er mit seinem Anruf für Spannungen gesorgt, und falls es schon vorher Spannungen gegeben hatte, würde sich alles zu seinem Vorteil entwickeln. Oder Clara würde wieder anfangen, ihn zu hassen, weil er sich so kindisch verhalten hatte. Welche Schwäche auch immer sie veranlasst hatte, ihn anzurufen, würde von ihrem Ärger überlagert sein.
    Sie verließen den Queens Midtown Tunnel, durch den sie im Schneckentempo gekrochen waren, eigentlich unmöglich zu dieser Stunde, und fuhren über den Queens Boulevard. Die zwölf-, an manchen Stellen auch sechzehnspurige Hauptstraße, die wegen der vielen Fußgänger, die hier zu Tode kamen, von den Anwohnern liebevoll »Boulevard der Knochenbrüche« genannt wurde, zählte zu den längsten in Queens. Sie war dem Grand Concourse in der Bronx nachempfunden, strahlte aber in Gradys Augen nichts von der einstigen Grandezza des Originals aus. In der Bronx waren die Prachtbauten entlang der europäisch anmutenden Promenaden im Lauf der Zeit dem Ruin anheimgefallen und bröckelten traurig vor sich hin. Der Queens Boulevard hingegen markierte eine ganz normale, lebendige Stadtmitte mit gigantischen Hochhäusern, Filialen großer Ladenketten und kleineren Geschäften. Die Gegend gehörte zu New York, strahlte aber eine ganz eigene Energie aus und gab sich eigenständig, nur dass der Glitzer und Glamour von Manhattan fehlte. Das hier war einfach nur Queens. Sie fuhren an einem Waffengeschäft vorbei, an einem Schnapsladen, einer Reihe von Fast-Food-Lokalen, einem kubanischen Geldautomaten.
    Grady parkte den Caprice gegenüber einer großen Lagerhalle, an der die im Internet recherchierte Adresse stand. Er hatte mit etwas Schrillerem gerechnet, mit greller Beleuchtung und einer langen Warteschlange. Oder vielleicht mit einem »Herrenklub«, vor dem man Luxuskarossen und die üblichen Verlierertypen sieht: grölende und unsichere Studenten, die feiern wollen und im Pulk per Bahn anreisen; reiche Männer, die sich eine Pause von der Ehefrau gönnen und im Hummer vorfahren; herumlungernde Perverse mit in den Taschen vergrabenen Händen.
    Aber vor dem Gebäude herrschte relative Ruhe. Die meisten Geschäfte - ein Copyshop, eine Zoohandlung, ein Herrenausstatter für Übergrößen - hatte man für die Nacht mit Gittern gesichert. Alle paar Minuten hielt ein Taxi und spuckte Klubgäste aus - eine Gruppe atemberaubend schöner, knapp bekleideter Frauen, einen älteren Herrn im schwarzen Wollmantel, zwei junge Männer in Anzügen, die schmale Laptoptaschen bei sich trugen. Alle verschwanden hinter einer unauffälligen schwarzen Tür, die von innen geöffnet wurde, ohne dass man den Türsteher von draußen hätte erkennen können.
    »Sie war berufstätig, oder?«, fragte Jez unvermittelt.
    »Wie kommst du darauf?«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau hierherkommt, es sei denn, sie gehört zum Milieu - Tänzerin, Callgirl. Laut ihrer Kontoauszüge hatte sie keinen Job, aber hast du ihr Apartment in SoHo gesehen? Eine hübsche Zweizimmerwohnung in der Gegend? Die kostet

Weitere Kostenlose Bücher