Huete dich vor deinem Naechsten
sich von Erik los und stürzte auf Ben zu. Sie fühlte, wie Erik und dann John sie zurückreißen wollten, wie sie schrien und nach ihr griffen. Sie blieb vor Ben stehen und kam sich plötzlich sehr klein und unbedeutend vor. Seine schiere Größe und Breite, das Ausmaß seiner Wut machten sie zur Zwergin. Sie wollte ihn anschreien, aber stattdessen legte sie ihm eine Hand an die Brust und flüsterte: »Ben, wir haben Kinder. Denk bitte auch an deine Töchter und was du ihnen gerade antust. Bitte.«
Er schien sie gehört zu haben und sackte in sich zusammen. Seine Wut war verraucht, sein Gesicht wirkte plötzlich schlaff und traurig.
Dann riss Erik sie herum, und alle fingen zu schreien an. Von überall stürmten uniformierte Polizisten auf sie zu, sie kamen aus ihren Streifenwagen und aus dem Haupteingang der Wache gesprungen. Schichtwechsel.
Von den Häuserwänden hallten die unterschiedlichsten Stimmen wider. Hände hoch! Lassen Sie die Waffe fallen! Fallen lassen! Fallen lassen! Es kam von überall und klang wie Krähengeschrei.
Erik und John rissen Linda zurück, und sie schrie: »Nein, nein!«, weil sie wusste, was passieren würde. Sie sah es in Bens Augen und an seinem Lächeln, das immer breiter wurde, dieses »Ihr könnt mich alle mal«-Lächeln. Sie hatte es schon einmal gesehen, es hatte sich in ihre Erinnerung geätzt und ihr Leben zu weiten Teilen bestimmt. Sie hatte in jedem einzelnen Gesicht danach gesucht, unter dem dünnen Firnis, den wir alle tragen. Und nun hatte sie es bei Ben gefunden. Nein, nein, nein! Sie beobachtete, wie er sich den Revolver unters Kinn hielt und ohne zu zögern abdrückte. Und dann ging alles in einer entsetzlichen Explosion aus Licht und Geräusch und in einer grausigen, roten Gischt unter.
ZWANZIG
E in Selbstmord, eine Fehlgeburt, ein plötzliches Verschwinden. Abkürzungen, Unterbrechungen. Variationen eines Themas, das mich mein Leben lang begleitet hat.
Ich benutzte Jacks Kreditkarte, um die Flugtickets zu buchen. Obwohl mein Foto kurz auf dem Fernsehschirm zu sehen war, der im Wartebereich des Flughafens unter der Decke hing, schenkte mir niemand Beachtung. Aus irgendeinem Grund war der Ton abgestellt. Unter meinem Foto lief eine Textzeile durch: Wie im Krimi: Dreifachmord in Downtown steht in Verbindung zu verschwundenem Ehemann von Bestsellerautorin. Offenbar rangierte die Nachricht unter »ferner liefen«; nach dreißig Sekunden war alles vorbei.
Auf dem Foto sah ich fünf Jahre jünger und fünf Kilo schwerer aus, aber trotzdem hätte man mich erkannt, hätte ich mir das Haar nicht zu einem strammen Nackenknoten gebunden und eine runde Nickelbrille aufgesetzt, die ich brauchte, aber niemals trug.
Aber vielleicht lag es nicht daran, sondern, wie Marcus behauptete, daran, dass die Leute nicht mehr hinsahen. Sie haben Stöpsel in den Ohren und starren auf die kleinen Displays in ihrer Hand. Oder sie telefonieren mit starrem, blindem Blick.
Obwohl ich ganz offiziell keine Tatverdächtige war und das auch wusste, rechnete ich jeden Moment mit der Polizei. Stand mein Name vielleicht auf einer Liste von Leuten, die das Land nicht verlassen dürften? Schon beim Check-in und bei der Röntgenkontrolle hatte ich mich darauf gefasst gemacht, aufgehalten zu werden. Aber nein, wir wurden durchgewinkt, während die junge Mutter hinter uns aufgefordert wurde, ihre Taschen auszuleeren und ihr weinendes Kleinkind durch eine dieser Maschinen zu tragen, die einem kurze, kalte Luftstöße entgegenblasen. Der Kleine schrie vor Angst. Ich musste an meine Schwester denken und an ihre Kinder.
Ein weiteres Thema, das sich durch mein Leben zieht: Flugzeuge. Nach dem Tod meines Vaters lag ich hinter unserem Haus im Gras und starrte stundenlang in den Himmel. Ich war fasziniert von der katholischen Vorstellung, der Himmel sei oben und die Hölle unten. Ich wusste, Selbstmord war eine Sünde, die mit ewiger Verdammnis bestraft wurde. Ich versuchte, mir die endlosen Qualen meines Vaters vorzustellen. Es klappte nicht. Wie konnte er dafür bestraft werden, dass er zu ängstlich, zu schwach und zu traurig zum Weiterleben gewesen war. Es kam mir falsch vor, ebenso falsch wie die Vorstellung, er könne bei Harfenmusik in den Himmel aufgestiegen sein. Es war albern und zu einfach. Die Menschheit hatte diese Phantasien entwickelt, um sich das Unerklärliche zu erklären.
Die Flugzeuge faszinierten mich. Ihre Spuren am Himmel erfüllten mich mit unendlicher Sehnsucht. Ich stellte
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