Huete dich vor deinem Naechsten
Goldstück!, gefolgt von bedeutungsschwangerem Schweigen, das nichts anderes ausdrücken wollte als: Was ist bei dir nur schiefgelaufen? Hätten die bloß eine Ahnung. Nicht dass meine Schwester kein Goldstück gewesen wäre, aber sie war eben noch mehr als das.
Ich war froh, einen Moment ungestört zu sein und ein paar Tränen vergießen zu können, ohne dass sich gleich jemand runterbeugte und sagte: »Das wird schon wieder.« Aber ich blieb nicht lange allein.
»Mrs. Raine?«
Eine Männerstimme. Ich drehte mich um. »Ich bin Detective Grady Crowe.«
Meiner persönlichen Einschätzung nach bemerkt eine Schriftstellerin im Vergleich zu einem normalen Menschen etwa fünfzig Prozent mehr an Details. Diese Details werden zum künftigen Gebrauch abgespeichert. Der Vorgang vollzieht sich innerhalb von Millisekunden, ich nehme ihn bewusst kaum wahr. Im Fall von Detective Crowe bemerkte ich das sorgfältig rasierte Kinn, die Bügelfalten in der Hose, die absichtlich aus den Ärmeln der schwarzen Wildlederjacke hervorstehenden blauen Hemdmanschetten. Ich bemerkte, wie ordentlich sein schwarzes Haar geschnitten war, die geschwungenen Augenbrauen und das höfliche Lächeln, das gegen das kalte Blitzen in seinen Augen nicht ankam.
Aus solchen Details spinnt der Romanautor seine Geschichte. Angesichts dieser Erscheinung stellte ich mir sofort einen Streber vor, einen Menschen, der großen Wert auf Feinheiten und Äußerlichkeiten legt. Eventuell verlor er manchmal den Überblick, weil er sich mit Kleinigkeiten aufhielt. Seine fest zusammengekniffenen Lippen verleiteten mich zu der Annahme, dass er rücksichtslos und engstirnig sein konnte und nicht aufgab, bevor er sein Ziel erreicht hatte.
Oft entspricht die Geschichte, die ich mir zusammenreime, der Wahrheit, aber manchmal - ganz selten - ersetzt sie die Realität komplett, so dass ich die Dinge nicht mehr sehen kann, wie sie eigentlich sind. Das ist keine gute Eigenschaft.
Detective Crowe betrat die Kabine, ohne um Erlaubnis zu bitten, und streckte mir eine Hand entgegen. Ich setzte mich unter Mühen auf und schüttelte sie. Sein Händedruck war fest und warm, seine Finger makellos manikürt. Er roch nach Kaffee. Er legte sich einen gepflegten Finger an die Schläfe und nickte mir zu.
»Da hat es Sie aber ordentlich erwischt.« Ich meinte, seine Mundwinkel amüsiert zucken zu sehen, was mich wütend machte.
»Finden Sie das lustig, Detective?« Ich wollte trocken klingen, dabei klang ich lediglich traurig.
Das Lächeln - real oder eingebildet - verschwand.
»Äh, nein. Natürlich nicht.« Er setzte ein ernstes Gesicht auf und zog ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch und einen Montblanc-Stift aus der Innentasche seiner Jacke. »Ich bin hier, um mit Ihnen über Ihren Mann zu sprechen, Marcus Raine. Über das, was heute Morgen in seiner Firma passiert ist.« Er klappte seine Brieftasche auf, um mir seinen Ausweis und die Dienstmarke zu zeigen.
Erleichtert darüber, endlich einen echten Polizisten vor mir zu haben, schilderte ich ihm alles der Reihe nach. Ein paarmal versuchte er, die Hand zu heben und mich zu unterbrechen. Aber ich ignorierte ihn. Ich konnte nicht anders, konnte erst aufhören, als er jedes schreckliche Detail gehört und zu Papier gebracht hatte, so als wäre das für mich der erste Schritt, das Ganze zu verstehen, eine Lösung zu finden und alles zu kitten, was seit Marcus’ Verschwinden am Vorabend zerbrochen war. Pflichtbewusst machte er sich Notizen, während es aus mir heraussprudelte. Ein paarmal hörte ich das Handy in seiner Jacke vibrieren. Er ignorierte es, was ich ihm hoch anrechnete. Manchmal hatte ich das Gefühl, zwei Männer vor mir zu haben - den Detective und seinen Doppelgänger, einen Schattenmann, den mein überlastetes Hirn erfunden hatte.
Er stellte viele Fragen: Warum hatte ich anfänglich geglaubt, die Leute im Büro kämen tatsächlich vom FBI? Das Logo auf ihrer Kleidung. Nein, ich hatte nicht nach einem Durchsuchungsbefehl gefragt. Ob ich die Leute beschreiben könne? Ja. Ich beschrieb sie, so gut ich konnte. Ob ich in der Lage sei, die fraglichen Personen auf Fotos wiederzuerkennen? Ja, ich glaubte, schon. Ob mein Mann Feinde gehabt habe? Ob ich von illegalen Geschäften Kenntnis habe? Ob irgendjemand ihm schaden wolle, oder mir, oder der Firma? Nein, nein, nein, nein und wieder nein.
»Was, meinen Sie, hat die Frau damit sagen wollen?«, fragte der Detective während einer Pause. Irgendwann hatte er aufgehört,
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