Huete dich vor deinem Naechsten
hinten gekämmten Haare sahen aus wie mit Schellack überzogen. Anscheinend hatte er seine Anweisungen von Isabel Raine erhalten, und mehr interessierte ihn nicht. Crowe erkannte den traditionellen New Yorker Pförtner wieder. Er stand den Wohnungseigentümern jederzeit zu Diensten und machte den Mund nur auf, um Komplimente auszusprechen, und an Weihnachten kassierte er fette Trinkgelder.
»Wann haben Sie Marcus Raine zuletzt gesehen?«, fragte Crowe, nachdem er sich den Namen, die Adresse und die Telefonnummer des Mannes notiert hatte. Charlie Shane wohnte in Inwood, dem nördlichsten Teil von Manhattan, der an die Bronx grenzt.
»Gestern früh, um kurz nach neun«, antwortete Shane ohne zu zögern. »Wahrscheinlich war er auf dem Weg zur Arbeit. Es fiel mir nur auf, weil er das Haus später als sonst verließ. Normalerweise ist er um sieben schon weg. Mrs. Raine arbeitet zu Hause, wann sie kommt und geht, ist unvorhersehbar.« Irgendetwas an Shanes Art und Weise, das letzte Wort zu betonen, verriet dem Detective, dass Unvorhersehbarkeit in Shanes Augen nichts Positives war.
Crowe wollte den Portier nach seinen Arbeitszeiten fragen, aber Shane nahm die Frage vorweg. »Ich arbeite montags bis samstags von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, manchmal auch länger, und bin seit fünfundzwanzig Jahren in diesem Haus.«
Grady warf einen Blick auf die Uhr. »Machen Sie heute Überstunden?« Es war kurz vor sieben.
»Der Nachtwächter ist noch nicht hier. Er heißt Timothy Teaford«, antwortete Shane. »Ich kann erst gehen, wenn er da ist.«
»Hat er angerufen?«
»Nein.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Ehrlich gesagt ja.«
»Können Sie mir seine Adresse geben?«
»Es gibt noch zwei andere Teilzeitportiers, die die Nachtschichten und den Sonntag übernehmen. Aber selbstverständlich haben sie ein weniger enges Verhältnis zum Haus und seinen Bewohnern als ich.«
»Selbstverständlich«, sagte Crowe ernst. »Trotzdem brauche ich alle Namen und Kontaktdaten.«
»Natürlich, Sir.«
Crowe beobachtete, wie Breslow sich im Eingangsbereich umsah. Die Lobby ging auf einen Hof mit großem Steinbrunnen hinaus, der im Winter abgestellt war. Sie zeigte Klasse, indem sie nicht mit offenem Mund glotzte und sich jeden Kommentars enthielt. Dennoch konnte er sehen, wie beeindruckt sie war. Er kannte viele solcher Lobbys - hohe Decken, Marmorböden, Gemälde, Plüschmöbel. Er war in Bay Ridge geboren und aufgewachsen, ein Arbeiterkind durch und durch, trotzdem hatte er später die Regis High School in Manhattan besucht. Regis verlangte verhältnismäßig niedrige Gebühren, deswegen war die Schülerschaft in sozioökonomischer Hinsicht gemischter als in anderen Schulen der Gegend. Viele seiner Freunde und Mitschüler stammten aus sehr wohlhabenden Verhältnissen und lebten heute unter ebensolchen Umständen: Sie waren Ärzte, Anwälte, Schriftsteller, Moderatoren. Er hätte eine ähnliche Laufbahn einschlagen können, aber Grady wollte immer Polizist werden - so wie sein Vater.
Nach Regis war er auf die New York University gegangen, obwohl man ihn auch in Princeton, Georgetown und Cornell genommen hätte. Er wollte einfach nicht so viel Geld fürs Studium ausgeben. Obwohl die betreffenden Hochschulen ihm Teilstipendien angeboten hatten, erschienen ihm die Studiengebühren schwindelerregend hoch. Seine Eltern hätten ihn unterstützt, aber dann wäre für seine Schwestern nichts mehr übrig geblieben. NYU bot ihm eine kostenlose Ausbildung, und sobald er sein Studium beendet hatte, trat er dem NYPD bei.
Er hatte das Gefühl, seine Familie enttäuscht zu haben. Sie hatten mehr von ihm erwartet, vor allem sein Vater. »Das ganze Lernen umsonst«, hatte er geklagt, »du hättest auf eine öffentliche Schule gehen und dir die Uni sparen können, wenn du im Leben nichts weiter tun willst als Gauner jagen.« Wie die meisten einfachen Leute wendete Gradys Vater eine simple Formel an, um »Erfolg« zu berechnen: Einkommen minus Anstrengung. Polizeiarbeit war hart und gefährlich, und als ehrlicher Cop wurde man nicht reich. Eine schlechte Rechnung. Unterm Strich gab man mehr, als man zurückerhielt. Aber die Jesuiten definierten »Erfolg« anders, und Grady auch.
Wegen seiner guten Ausbildung, wegen eines einjährigen lebensgefährlichen Einsatzes als verdeckter Drogenermittler in der South Bronx und wegen einer besonders publikumswirksamen Verhaftung bekam er die goldene Dienstmarke schnell. Fünf Jahre später wurde er zum
Weitere Kostenlose Bücher