Huete dich vor deinem Naechsten
dogmatischen Überzeugungen, ihre eiserne Miene - alles nur Teil der Rüstung, die ihr schutzloses Inneres schützen sollte.
Linda hörte ihr Handy im Nachttisch vibrieren und griff schnell danach. Auf dem Display stand: 1 neue Nachricht . Sie klappte das Handy auf.
Können wir uns heute sehen? Bin verrückt . Linda erfasste eine Woge aus Angst und Nervenkitzel.
Sie antwortete: Familiennotfall. Ich weiß noch nicht. Vielleicht.
Als sie ein leises Klopfen an der Tür hörte, ließ sie das Handy unter der Bettdecke verschwinden und schloss die Augen.
»Mom?«, fragte Emily und streckte den Kopf zur Tür herein. »Ich kann meine schwarzen Leggings nicht finden.«
»Okay«, sagte Linda und spielte die Verschlafene. »Komme schon.«
»Izzy ist weg«, sagte Emily. Ihr Gesicht wirkte ausdruckslos, aber in ihrem Blick lag Sorge.
»Izzy schafft das schon«, meinte Linda, setzte sich auf und streckte die Arme aus. Emily kam zum Bett gelaufen und ließ sich drücken. »Wir werden auf sie aufpassen, und alles wird gut.«
»Aber was ist mit Marcus?«
Linda seufzte. Sie spielte kurz mit dem Gedanken zu lügen und ihre Tochter mit einer Plattitüde abzuspeisen. Aber dafür war Emily zu aufgeweckt und zu alt. Eine Lüge würde sie nur noch mehr beunruhigen. Linda nahm das Gesicht ihrer Tochter in die Hände. Emily sah Izzy so ähnlich, dass Linda das Gefühl hatte, zwei Personen vor sich zu haben.
»Em, ehrlich gesagt wissen wir nicht, was im Moment los ist. Die Polizei hilft uns, und wir werden rausfinden, was passiert ist. Was immer auch kommen mag, wir werden das gemeinsam durchstehen. So macht man das als Familie.«
Emily lehnte sich an ihre Mutter und schlang die Arme um Lindas Taille.
»Ich finde, du und dein Bruder sollten heute zur Schule gehen«, sagte Linda und stand auf. Zusammen gingen sie zur Tür. »Falls es Neuigkeiten gibt, holen wir euch ab.«
Emily nickte unsicher, schien mit der Antwort aber zufrieden. Zur Schule zu gehen wäre das Normalste, und genau das brauchten die Kinder jetzt. Trevor würde ein Riesentheater machen; Linda wusste, dass er schon auf einen freien Tag spekuliert hatte. Die meisten Leute hielten ihren Sohn für das pflegeleichtere Kind. Dabei war er weniger lenkbar, weniger kooperativ als seine Schwester. Er tendierte dazu, trotzig und bockig zu sein.
»Deine Leggings liegen oben auf dem Trockner«, erklärte Linda und gab Emily einen Klaps auf den Po. »Zieh dich an.«
Wieder vibrierte das Handy unter der Bettdecke, aber Emily schien nichts gehört zu haben und hüpfte aus dem Zimmer. »Ich will Marmelade, Dad!«, rief sie und zog die Tür hinter sich zu. Brown fing wieder zu bellen an.
Die Schuldgefühle, die das Leben jeder Mutter prägen, drohten die Oberhand zu gewinnen. Der kommende Tag mit all seinem Elend türmte sich vor Linda auf wie eine Gewitterwolke. Sie roch Kaffeeduft und überlegte sich, dass es keinen anderen Ausweg gab als: Augen zu und durch.
Der Tag, an dem mein Vater sich umbrachte, begann kalt und klar. Als ich aufwachte, hörte ich den Sturm an den Fenstern rütteln, und vom Bett aus sah ich den hellblauen Himmel und die hohen Zirruswolken. Mein Blick wanderte durchs Zimmer, bis er bei meiner Schwester hängen blieb, die gegenüber von mir im Bett lag. Sie hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke.
»Ich habe schlecht geträumt«, sagte sie, weil sie aus irgendeinem Grund wusste, dass ich wach war. Sie wirkte blass und sehr klein in ihrem Kinderbett.
»Wovon?«
»Keine Ahnung. Es war irgendwas Schlimmes.«
»Träume können dir nichts anhaben«, bemerkte ich, nur weil sie das sonst immer zu mir sagte. Und sie sagte es nur zu mir, weil Mom es ihr gesagt hatte. Sie war fünfzehn, ich zehn. Dabei hatte sie, wie ich später erfuhr, nichts geträumt. Sie hatte ihn gesehen. Linda war diejenige, die meinen Vater zusammengesackt im Schuppen hinter dem Haus gefunden hatte, die Wand mit seinem Blut bespritzt, die Pistole auf dem Boden. Aus irgendeinem Grund war sie die Einzige gewesen, die den Schuss gehört hatte.
Der Knall hatte sie aus dem tiefsten Schlaf gerissen, und sie war aus der Hintertür gerannt, um ihn zu suchen. Ständig hielt er sich im Schuppen auf, um zu tischlern - Vogelhäuschen, Puppenhäuser, winzige Möbel, Bilderrahmen, Setzkästen. Alle liebten die Arbeiten meines Vaters. Ständig baute er Geschenke für Freunde und Nachbarn, und nie nahm er Geld dafür. Meine Mutter hatte sich immer darüber beschwert, er
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