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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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altern.
    Aber eigentlich war es nicht so wichtig. Diese Sorge war nur eine von vielen anderen Sorgen, die Lindas Wohlbefinden beeinträchtigten, sobald sie es zuließ. Natürlich gab es größere Probleme als ihre schwindende Jugend. Wie selbstsüchtig von ihr, solche lächerlichen Gedanken zuzulassen, während Isabels Leben aus den Fugen geriet. Linda riss sich von ihrem Spiegelbild los, schlüpfte wieder ins Bett und zog sich die schwere Daunendecke über den Kopf. Sie wollte dem neuen Tag noch ein paar Minuten trotzen, ihrem vermissten Schwager entkommen und der Tatsache, dass ihre verletzte Schwester sich soeben in die Schlacht gestürzt hatte. Normalerweise wäre Linda jetzt in Panik geraten, aber aus irgendeinem Grund ermüdete sie die Sache bloß, so als wäre sie unter einer dicken Schneedecke aufgewacht. Eine Art emotionale Unterkühlung hatte von ihr Besitz ergriffen, die ihre Glieder schwer machte und sie aller Energien beraubte.
    Als am Vortag der Anruf gekommen und sie zum Krankenhaus gerast war, wo ihre Schwester blass und reglos, mit einer Platzwunde an der Stirn auf der Trage lag, hatte Linda das Gefühl gehabt, eine entsetzliche Erinnerung zu durchleben. So als wäre alles schon einmal passiert. So schockiert und panisch sie auch gewesen war, bevor Izzy endlich die Augen öffnete - irgendwie schien sie die ganze Zeit nur auf einen schrecklichen Vorfall gewartet zu haben, der mit dem Mann ihrer Schwester zusammenhing.
    Irgendetwas stimmte nicht mit Marcus Raine, das hatte Linda gespürt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Und durchs Kameraobjektiv betrachtet sah er nicht besser aus: harte Gesichtszüge, ein merkwürdiger, verschatteter Blick. Als Fotografin wusste Linda, dass es darauf ankam, auf jene bestimmte Millisekunde zu warten, in der ein Mensch sein wahres Gesicht zeigte - etwa durch ein Zucken in den Augenwinkeln, ein unwillkürliches Anspannen der Kiefermuskeln oder der Stirn. In jener Millisekunde wurden hübsche Gesichter wunderschön, schöne Gesichter hässlich, fröhliche Gesichter plötzlich bekümmert. Das Gesicht ist eine organische Einheit; es kann die Starrheit einer Maske nicht ewig aufrechterhalten. Gelegentlich muss es Luft holen. Sie hatte Marcus frühzeitig und eindeutig erkannt und versucht, mit Isabel darüber zu reden, aber ihre Schwester hatte nichts davon hören wollen. Linda begriff, dass sie Marcus, wollte sie ihre Schwester nicht verlieren, akzeptieren und hoffen musste, sich in ihm getäuscht zu haben. So ging es immer, wenn die Herkunftsfamilie den gewählten Partner ablehnt; es kommt einer Kontinentalverschiebung gleich. Falls die Ehe gut läuft, entfernen sich die inkompatiblen Einheiten langsam voneinander. Die Besuche werden rarer, bis zum Schluss nur die gelegentlichen Telefonate bleiben, die obligatorischen sonntagnachmittäglichen Treffen, die seltenen, ungemütlichen Abendessen, bei denen das Wichtigste ungesagt bleibt. Linda hatte das alles deutlich vor Augen, kannte es von Freunden. Und Isabel war ja so verliebt in ihn. Und so biss Linda sich mit fast übermenschlicher Anstrengung auf die Zunge und ermöglichte ihnen allen ein normales Familienleben. Ironischerweise hatte Linda ihr Misstrauen gerade jetzt, fünf Jahre später, langsam abgebaut. Erik mochte Marcus von Anfang an und konnte Linda davon überzeugen, dass sie sich getäuscht hatte. Sie tolerierte Marcus nicht bloß, sondern hatte sogar angefangen, ihn ein bisschen zu mögen. Dabei hätte sie es wissen müssen: Das Objektiv log nie.
    Sie hörte die helle Stimme ihres Sohnes und die dunkle ihres Mannes. Dann wie der Fernseher eingeschaltet wurde. Eine Minute später roch es nach frischen Waffeln. Der Tag fing ohne sie an. Linda war unendlich dankbar dafür, den Großteil ihrer Weihnachtseinkäufe bereits erledigt zu haben. In der Woche zuvor hatte sie alle Geschenke eingepackt und zu ihrer Mutter nach Riverdale gefahren. Dort würden sie Heiligabend verbringen und die Geschenke am nächsten Morgen auspacken. Kurz darauf bellte Brown, weil er nach draußen wollte, und durch die Wand konnte sie Emily hören, die ihn anschrie, er solle still sein.
    Am Abend zuvor war sie noch spät ins Gästezimmer gegangen, um nach ihrer Schwester zu sehen, und hatte Emily und Brown in Izzys Bett vorgefunden. Sie musste über die Ähnlichkeit zwischen Isabel und Emily staunen, über ihre Liebe zu den beiden und den eisernen Willen, sie zu beschützen. Lindas große Klappe, ihre Überheblichkeit, ihre

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