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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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verplempere seine Zeit mit diesem Schnickschnack, während der Rasen gemäht und der Zaun repariert werden musste. Seine Hände seien voller Schwielen und Splitter und schrecklich rau.
    Linda stieß die Tür zum Schuppen auf und fand ihn. Im Aschenbecher brannte noch eine Zigarette. Sie war überrascht, denn sie hatte ihn nie rauchen sehen. Später sagte sie, es war, als hätte sie den Rest der Szene gar nicht mitbekommen. Sie dachte nur an die Zigarette, und dass sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie er daran zog oder den Qualm einatmete. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie dort gestanden hatte.
    Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge oft dort auf der Schwelle stehen, eine Hand am Türrahmen, die andere am Türknauf. Das helle Licht des Vollmonds lässt ihr Nachthemd leuchten, darunter zeichnet sich ihr schlanker Körper ab. Vielleicht hat sie in der Kälte gezittert, sich vielleicht die Arme um den Leib geschlungen.
    »Daddy, was ist los?«
    Ich weiß, er hat nicht gewollt, dass Linda oder ich ihn so finden. Der Zutritt zum Schuppen war uns streng verboten. Er muss damit gerechnet haben, dass meine Mutter am frühen Morgen herauskommt, tobend vor Wut, weil er die ganze Nacht da draußen verbracht hat, und außerdem, wusste er überhaupt noch, dass er eine Frau hatte?
    Ein Nebel legte sich auf unser Leben. Und ehrlich gesagt hat er sich nie gelichtet. Der Unterschied zwischen dem Leben davor und dem danach war so krass, als handelte es sich um verschiedene Leben. Ein Selbstmord hinterlässt Spuren, die tiefer sind als die anderer Tragödien - ganz besonders der Selbstmord eines Elternteils. Und das Schlimmste an dem Leid, das folgt, ist vielleicht der Umstand, dass man nicht darüber redet. Die Leute werden wütend, wenn es um Selbstmord geht. Das ist etwas für Feiglinge. Als bräuchte es zum Leben nicht mehr als einen soldatischen Durchhaltewillen. Dem Toten wird die Schuld zugeschoben, weil er achtlos weggeworfen hat, woran andere Menschen verzweifelt hängen. Aber auch der hinterbliebenen Familie. Wusste denn niemand, wie unglücklich er war? Natürlich macht man sich diese Vorwürfe auch selbst, besonders als Kind. Die Connelly-Schwestern sind wunderschön und clever , hatte mein Vater immer gesagt. Aber eben nicht schön und clever genug, oder, Daddy?
    Die Leute vermeiden das Thema und sehen einen nicht mehr an. Die anderen Schüler schienen von mir abgestoßen zu sein und hielten sich auf Abstand. Für ein Kind bedeutet das, neben Kummer, Wut und Trauer auch noch die Schande ertragen zu müssen. Für die Hinterbliebenen eines Selbstmörders gibt es keine tröstlichen Worte. Keiner sagt: »Er ist jetzt in einer besseren Welt«, oder: »Die Wege des Herrn sind unergründlich.« Er wurde nicht von einem Unfall oder einer Krankheit dahingerafft. Er hat sich nicht an Gottes Plan gehalten. Er ist gegangen, in einem Akt der ultimativen Auflehnung oder Respektlosigkeit oder Kapitulation.
    Ich kann mich an das Gefühl erinnern, das mich in dem Jahr nach dem Tod meines Vaters begleitete. Eine seltsame Leichtigkeit, ein Gefühl des Dahintreibens. Null Schwerkraft. Ich begriff, dass alles, was uns solide und unveränderlich erscheint, vergänglich ist. Und dass es sich dabei um eine der großen Wahrheiten des Lebens handelt, nicht um die Ängste eines trauernden Kindes. Alles, was uns in dieser Welt hart und schwer erscheint, ist aus Milliarden von Molekülen zusammengesetzt, die in ständiger Bewegung sind und uns dennoch die Illusion von Dauerhaftigkeit vermitteln. Dabei wird irgendwann alles zerfallen und verschwinden. Nur dass manche Dinge schneller und überraschender verschwinden als andere.
    Als ich in dem Apartment stand, das ich mit meinem Mann geteilt hatte, beschlich mich wieder dieses Gefühl. Der Portier hatte versucht, mich aufzuhalten und mir zu erklären, dass etwas nicht in Ordnung sei. Am Aufzug wurde ich minutenlang von einem uniformierten Polizisten aufgehalten, der mir den Weg verstellte und mit mir diskutieren wollte. Und dann erschien Detective Crowe in der Tür. Es war seltsam, ihn da zu sehen, drinnen , während ich draußen im Flur stand. Es war ärgerlich, um genau zu sein. Ich ging auf ihn zu, aber er hob abwehrend die Hand und warf mir einen Blick zu, der mich mitten in der Bewegung innehalten ließ. Eine Mischung aus Warnung und Mitgefühl.
    »Mrs. Raine, Sie wollen hier nicht rein«, sagte er sanft. Hinter mir stand der uniformierte Polizist. »Nicht jetzt.«
    »Ich muss

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