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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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die Fotos durch.
    »Du liebe Güte, Linda«, hatte Izzy gesagt, »sieh dir das bloß an. Es ist wunderschön!« Das Schwarz-Weiß-Foto zeigte eine alte Frau, die Linda an einer Bushaltestelle fotografiert hatte. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und ihr wirres Haar schlohweiß, aber ihre weit aufgerissenen Augen wirkten so hellwach wie die eines Kindes.
    »Wer ist das? Was ist ihre Geschichte?«, fragte Izzy.
    Linda war verwirrt, sie ärgerte sich sogar ein wenig über die Frage.
    »Wer weiß?«, sagte sie. »Ich habe mich nicht mit ihr unterhalten. Ich habe sie nur fotografiert.«
    Linda ging es nicht um die Geschichte hinter dem Menschen, sondern um die Schönheit des Augenblicks, die sie einfangen und konservieren wollte. Es ging um das Universum, das sich in einen Bildausschnitt bannen lässt. Isabel reichte das nicht. Sie wollte wissen, welche Ereignisse im Leben dieser Frau sie an genau diese Bushaltestelle geführt hatten und welche Gefühle und Gedanken ihren Gesichtsausdruck bestimmten. Und wenn sie es nicht herausfinden konnte, sah sie sich genötigt, sich selbst etwas auszudenken.
    Sie hatten darüber gelacht, wie verschieden sie doch waren und wie unterschiedlich ihre Kunst und Herangehensweise. Am Ende schrieb Isabel: »Mein Gesicht ist, was die Welt von mir bekommt. Schauen Sie genau hin, dann entdecken Sie, was ich von der Welt bekommen habe.« Natürlich war es perfekt, so wie alles, was Isabel zu Papier brachte.
    In Lindas Erinnerung waren sie an jenem Nachmittag so unglaublich jung. Linda war aufgeregt wegen der anstehenden Ausstellung, und die Veröffentlichung von Isabels erstem Buch stand kurz bevor. Wie so oft dachten sie, die Welt liege ihnen zu Füßen. Sie hatten sich selbst nie anders gesehen. Selbst die Tragödie, die sich während ihrer Teenagerzeit abgespielt hatte, konnte daran nichts ändern.
    Linda drehte sich um und schaute in den Spiegel über der Kommode. Sie sah mitgenommen aus. Mit ihrer Figur war sie noch nie zufrieden gewesen (Oberweite zu klein, Hüftumfang zu groß), ihr Gesicht hingegen hatte sie immer gemocht. Mit ihrer hübschen Natürlichkeit war sie stets zufrieden gewesen - glatte Haut, makellose Gesichtszüge, strahlend blaue Augen. Aber in der letzten Zeit hatten sich an ihren Augen- und Mundwinkeln tiefere Fältchen gebildet. Schlafmangel und zu viel Stress sorgten dafür, dass sie oft abgehetzt und erschöpft aussah. Selbst ihr seidiges, blondes Haar wirkte mit einem Mal trockener und verlor seinen Glanz. Linda legte sich die Hände an die Schläfen und zog ihre Haut so glatt wie nach einer misslungenen Schönheitsoperation. Sie musste lachen.
    Sie hielt sich nicht für besonders eitel, aber anscheinend hatte sie ihr gutes Aussehen immer als selbstverständlich betrachtet. Und nun, da ihre Schönheit verblasste, musste sie feststellen, dass sie doch eitel war. Plötzlich fielen ihr an Izzy Kleinigkeiten auf - die schlanke Taille, die mädchenhaft vollen Wangen, die glatte Haut unter den Augen -, und Linda beschlich das Gefühl, auf einmal ganz anders als ihre Schwester auszusehen. Sie waren immer schon wie Schneeweißchen und Rosenrot gewesen, Linda kam nach der Mutter, Isabel nach dem Vater. Aber die Art und das Maß ihrer Schönheit hatten immer Ähnlichkeit gehabt. Das stolze Lieblingsmantra ihres Vaters: »Die Connelly-Schwestern sind wunderschön und clever.« Keine war schöner oder cleverer als die andere. Auf diesen Gebieten hatten sich Linda und Isabel nie messen müssen.
    Linda hätte nie geglaubt, dass zwei Kinder und fünf Jahre ihr Aussehen dermaßen verändern würden. Doch noch bis vor Kurzem hatte sie sich keine Gedanken über ihr Alter gemacht. Erst in jüngster Zeit wurde ihr bewusst, dass die weichen Ringe an ihrem Bauch sich weder durch Sport noch kohlehydratfreie Kost beseitigen ließen. Das Absacken ihrer Wangen würde ohne Operationen oder Injektionen nicht aufzuhalten sein. Sie hatte immer geglaubt, zu charakterfest für die Verlockungen der Schönheitschirurgie zu sein. Konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese bemitleidenswerten Frauen zu enden, die sich um die Falten auf ihrer Stirn mehr Sorgen machen als um ihre Kinder, die denken, jünger auszusehen (dabei sahen sie nicht einmal jünger aus, nur anders ) bewahre sie länger vor der Enttäuschung, die an ihrem Leben nagt. Wie viel Energien es wohl kostete, diesen aussichtslosen Kampf aufzunehmen! Linda war eine Künstlerin; sie würde in Anmut und Würde

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