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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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nicht. So finster. So hoffnungslos.
    »Bist du zur Polizei gegangen?«, fragte ich.
    Er nickte. »Sie wissen alles. Es tut mir leid. Es hat sich wie Verrat angefühlt, aber ich dachte mir, es könnte … von Belang sein.«
    Ich wünschte, ich könnte sagen, der Schock hätte mich abgestumpft, aber so war es nicht. Ich hatte das Gefühl, mitten in einer Stadt zu stehen, die aus der Luft bombardiert wird. Ich wusste nicht, wohin, während ringsum alles in Trümmer fiel. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper, ich war auf Flucht oder Kampf eingestellt.
    Erik legte seine Hände auf meine Schultern. »Tut mir leid, Izzy. Ist nicht dein Problem. Du hast im Moment genug um die Ohren. Ich wollte nur nicht, dass du es von der Polizei erfährst.«
    »Aber es ist mein Problem. Selbstverständlich ist es mein Problem, Erik.«
    »Nein«, sagte er und schloss kopfschüttelnd die Augen, »ist es nicht.«
    »Weiß sie Bescheid?«, fragte ich.
    Erik atmete hörbar aus. »Noch nicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich es ihr sagen soll. Ich …« Er schüttelte weiter den Kopf, und seine Augen wanderten zur Schlafzimmertür, hinter der Linda lag und schlief. Er brachte den Satz nicht zu Ende.
    »Sag ihr nichts«, erklärte ich und stand auf. Ich griff nach meiner Handtasche und entriegelte das Sicherheitsschloss an der Wohnungstür. »Gib mir ein bisschen Zeit.«
    »Izzy, warte«, sagte er und lief mir nach. »Was hast du vor?«
    »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Auf jeden Fall etwas anderes als rumsitzen und zuschauen, wie unser Leben den Bach runtergeht.«
     
    Es fühlte sich gut an, draußen unterwegs zu sein. Ich trat vom Gehweg auf die Straße und reckte dem Verkehr, der die Lafayette entlangströmte, den Arm entgegen. Eine alte Dame mit einem langen Mantel, dramatisch leuchtender, knallrosa Pashminastola und drei weißen Pudeln starrte mich an. Ich erinnerte mich an den dicken Verband um meinen Kopf und berührte ihn mit der Hand, während ich auf die Rückbank des Taxis rutschte.
    »Krankenhaus?«, fragte der Fahrer. Ich wusste nicht, ob er sich einen dummen Scherz auf meine Kosten erlaubte.
    »Achtundsiebzigste Straße, zwischen Broadway und Amsterdam Avenue«, sagte ich. Ich wollte nach Hause, um jene Wohnung, in der mein Leben mit Marcus stattgefunden hatte, zu durchsuchen. Notfalls würde ich sie Stück für Stück auseinandernehmen, Hauptsache, ich fand heraus, was meinem Mann zugestoßen war. Für Trauer oder Angst hatte ich keine Zeit; mich trieb das Verlangen an, herauszufinden, was mit meinem Leben passiert war. In den folgenden Tagen würde mich dieser Tunnelblick, dieser übermächtige Drang dazu verleiten, die falschen Entscheidungen zu treffen und großes Unheil heraufzubeschwören. Ich ahnte natürlich nichts davon, als das Taxi in Richtung Uptown raste. Ich tat einfach nur, was ich am besten konnte.
     

SIEBEN
    A us dem dritten Stock schaute Linda Book zu, wie ihre Schwester ein Taxi heranwinkte. Linda klopfte ans Fenster und versuchte dann, es zu öffnen, aber das blöde Ding klemmte. Es hätte ohnehin nichts genützt. Linda sah Isabels schwarze Haare und den weißen Kopfverband, als ihre Schwester ins Taxi einstieg und die Tür schloss. Linda schaute dem Taxi nach und dachte: Bestimmt fährt sie nach Hause. Sie versucht, sich einen Reim zu machen. Sie will es wiedergutmachen, will richtigstellen, was schiefgelaufen ist. Beim Gedanken an die Dickköpfigkeit ihrer Schwester stöhnte Linda auf. Dass beide diesen Charakterzug teilten, machte es nicht besser.
    Linda lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und überlegte. Was sollte sie tun? Anrufen? Ihr nachfahren? Sie in Ruhe lassen? Sie beschloss, Izzy in Ruhe zu lassen. Man konnte sie ohnehin nicht aufhalten. Außerdem musste Linda sich um die Kinder kümmern, die angezogen und zur Schule gebracht werden wollten. Darüber hinaus wusste Linda, dass Isabel gar nicht anders konnte. Es war der Fluch der Schriftstellerin; sie wollte um jeden Preis verstehen, denn ihr Verständnis würde ihr die Kontrolle sichern.
    Zu Beginn ihrer Karriere als Fotografin hatte Linda an einer Serie mit dem Titel »Stadtgesichter« gearbeitet. Wochenlang war sie in Manhattan umhergestreift und hatte wahllos Menschen fotografiert - einige spontan, andere mit Erlaubnis - und so eine Reihe von Porträts geschaffen, die ihr einen Agenten und ihre erste große Ausstellung in einer Galerie in SoHo einbrachten. Sie bat ihre Schwester, einen Begleittext zu verfassen, und gemeinsam gingen sie

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