Huete dich vor deinem Naechsten
Schwester passiert war, wobei sie sich Mühe gab, nicht allzu schroff zu klingen. Jemand klopfte an die Klotür; der kleine Coffeeshop verfügte nur über diese eine Toilette. Von draußen hörte sie Geschirr klappern und Stimmengemurmel. Der Duft von Speck und Ahornsirup erinnerte sie daran, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte.
»Einen Moment!«, rief sie. Keine Antwort.
»Was glaubst du, was mit ihm passiert ist?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte sie, zog ihr Handy aus der Tasche und schaute nach, ob neue Nachrichten eingegangen waren.
»Vielleicht kann ich was rausfinden«, schlug er vor. »Ich bin mit dem Gerichtsreporter befreundet.«
Sie hatte Ben bei einer ihrer Vernissagen kennengelernt. Er war Kunstkritiker und hatte sie in einem früheren Artikel nicht gerade geschont. Gewöhnlich, gefühlsduselig waren nur zwei Begriffe, die ihr im Gedächtnis geblieben waren. Trotzdem fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er war ein großer, robust wirkender Mann mit kurzem, dunklem Haar, gepflegtem Kinnbart und kleinen Silberkreolen in den Ohren. Weil seine Kritiken gnadenlos und sein Aussehen atemberaubend waren, hatte sie ihn sich immer als laut, eloquent und arrogant vorgestellt. Tatsächlich erwies er sich als sanftmütig und strahlte sogar eine gewisse Verletzlichkeit aus. Wenn er sich unbeobachtet wähnte, versuchte sie zu sehen, wie er sich entspannte, locker ließ und sein wahres Gesicht zeigte. Aber das passierte nie. Er war auf der Hut, immer.
»Anscheinend sagen ausgerechnet solche Leute, die am wenigsten aus ihrem Leben gemacht haben, die größten Gemeinheiten über jene, die das meiste draus machen«, hatte sie an ihrem ersten Abend leicht angeschwipst zu ihm gesagt. Die Umstehenden verstummten, aber Erik neben ihr lächelte. Es gefiel ihm, wenn sie ausfallend wurde.
Ben nickte langsam und nippte an seinem Wein. »So muss es Ihnen vorkommen. Wie sieht es mit Ihren freundlichen Kritikern aus, verachten Sie die ebenfalls?«
Sie musste lachen. Ein tiefes, kehliges Lachen, und sie bemerkte, dass seine Augen zu glänzen begannen.
»Natürlich nicht«, entgegnete sie, » diese Kritiker sind ganz offensichtlich brillant.« Und alle lachten mit, erleichtert darüber, dass der peinliche Moment vorüber war.
»Linda, ich liebe Ihre Fotos«, sagte er, und sie sah seine Arroganz aufblitzen. Wie er sie im Beisein der anderen anredete, wie er ihren Namen aussprach, als wären sie alte Freunde - in ihr regte sich ein seltsames Gefühl. »Ich halte große Stücke auf Sie. Nur aus diesem Grund bin ich enttäuscht, wenn Ihre Arbeit hinter Ihren Fähigkeiten zurückbleibt. Was aber, zugegebenermaßen, nur selten der Fall ist.«
Er hob sein Glas, und die anderen taten es ihm gleich. Sie hätte sich bedanken sollen, ließ es aber bleiben.
»Dann sind Sie also ein verhinderter Fotograf, so wie viele andere Ihrer Kritikerkollegen? Haben Sie zu Hause stapelweise Fotografien liegen, die kein Magazin abdrucken und kein Agent vermitteln will?«
Linda spürte, wie Erik sie warnend in den Rücken kniff. Beide wussten, dass der Wein einen anderen Menschen aus ihr machte, einen aggressiveren, der aussprach, was Linda in nüchternem Zustand niemals sagen würde. Sie wich Bens Blick nicht aus und genoss das Lächeln, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Nein«, sagte er. »Selbst als kleiner Junge habe ich von nichts anderem geträumt, als die künstlerischen Leistungen anderer zu bewerten.«
Die Umstehenden brachen in lautes Gelächter aus, so dass alle Gäste des Abends sich umdrehten.
Linda und Ben vögelten noch in derselben Woche zum ersten Mal.
»Das wäre toll«, sagte sie und umfasste seine Taille. Er war viel größer als Erik, stämmiger und hatte breitere Schultern. Das gefiel ihr an ihm, seine Größe. Sie fühlte sich sicher, auch wenn er ihr keine Sicherheit bot und das, was sie taten, alles andere als sicher war.
»Ich schreib dir eine SMS«, murmelte er in ihre Haare hinein.
Sie machte sich los, schloss die Tür auf und spähte hinaus, konnte aber in dem schmalen Durchgang zum Coffeeshop niemanden entdecken. Sie warf noch einen Blick zurück und sah die Sehnsucht in seinem Gesicht. Ihr Herz zog sich zusammen.
»Tut mir leid«, sagte sie. Warum, wusste sie selbst nicht.
»Mir auch«, erwiderte er.
Der Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass er unglücklich verheiratet war. Er hatte Linda erzählt, er bliebe nur wegen seiner beiden Töchter, zwei und vier Jahre alt, bei seiner
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