Huete dich vor deinem Naechsten
Frau. Er zeigte Linda Fotos von den Kindern, sie hatten niedliche Gesichter, die eine besaß dunkles, die andere helles Haar, genauso wie sie und Isabel. Der Anblick dieser Aufnahmen beschämte sie zutiefst, und sie musste sich jedes Mal zum Hinsehen zwingen, wenn er mit neuen Familienbildern ankam. Sie hätte sich niemals vorstellen können, Fotos ihrer Kinder zu ihren Treffen mitzubringen. Sie konnte nicht verstehen, wieso er es konnte.
Linda wusste nicht, wer von ihnen beiden die größere Schuld trug, aber ganz zweifellos richtete sie den größeren Schaden an. Sie war in ihrem Leben mit Liebe und Erfolg gesegnet, und doch reichte es ihr nicht. Als sie den Coffeeshop verließ, beachtete sie niemand - nicht die Gäste, nicht die Kellnerin hinter dem Tresen, nicht der Koch am Grill. Sie liebte die Anonymität von New York. Man war immer allein; niemand kümmerte sich um das, was man tat, welche Kleidung man trug, mit wem man schlief. Alle waren so mit ihrem eigenen Leben, ihren eigenen Wunschträumen beschäftigt, dass sie die anderen nicht wahrnahmen.
Als sie im Taxi nach Uptown saß, rief sie noch einmal ihre Schwester an. Vergeblich.
ZEHN
I ch tat, was Detective Breslow mir geraten hatte, und überprüfte meine Bankkonten. Obwohl mitten am Tag, ging beim Steuerberater niemand ans Telefon, nicht einmal der Anrufbeantworter. Kein gutes Zeichen. Da alle Computer verschwunden waren, konnte ich meinen Kontostand nicht auf gewohntem Weg abfragen. Also liefen Detective Crowe und ich zum nächsten Geldautomaten auf dem Broadway. Es dauerte nicht lang, seine Befürchtungen zu bestätigen; sämtliche Konten waren bis auf einhundert Dollar abgeräumt. Ich starrte die leuchtenden Zahlen auf dem kleinen Bildschirm an und fühlte ein Brennen im Hals, so als stiege mir die Galle hoch. Vier Konten - ein Girokonto, ein Sparkonto und zwei Tagesgeldkonten - leer, auf jedem nur noch der jeweilige Mindestbetrag von hundert Dollar.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte ich.
»Es tut mir leid«, meinte Crowe, während er etwas in sein Notizbuch kritzelte.
»Hey, seid ihr fertig?« Hinter uns stand ein junger Mann, der von einem Bein aufs andere trat und sich ein Handy ans Ohr hielt. »Ihr haltet den Verkehr auf.«
Wir gingen beiseite, und ich drückte mich in den nächsten Hauseingang, nur um mich irgendwo anlehnen zu können und niemandem im Weg zu stehen. Die Leute eilten vorüber, und der Autoverkehr auf dem Broadway glich einem brodelnden Fluss.
»Von wie viel Geld sprechen wir hier?«
»Das war nur das nicht angelegte Geld«, antwortete ich. Der Asphalt unter meinen Schuhen fühlte sich an wie Sand, weich und nachgiebig. »Ich weiß es nicht genau, vielleicht siebzigtausend, insgesamt?«
Er nickte, verkniff sich jeden Kommentar und schrieb einfach nur in seinem blöden Büchlein weiter. Ich wollte etwas sagen, aber ich befand mich im freien Fall. Ich dachte an alles, wofür ich so lange und so hart gearbeitet hatte. Ich fragte mich, was mit dem angelegten Geld passiert war - den Rentenkonten, Lebensversicherungen, Aktien. Natürlich würden auch die weg sein. Langsam spürte ich die Wucht des Schlags. Ich hatte alles verloren. In mir tat sich eine große Leere auf, und ich musste wieder an meine Mutter denken.
Margie hat perfekt geformte, lange, schlanke Finger, die sie schamlos mit den dicksten Edelsteinen schmückt.
»Alte Frauen sollten Juwelen tragen, dicke Klunker«, sagt sie immer. »Sie haben es sich verdient, und die Klunker lenken vom Alter ab. Ich mag nicht mehr jung sein, aber ich bin reich. Und das zählt doch auch.«
So ist Margie.
Außer an dem einen Abend, als sie uns ihre Heiratspläne mit Fred verriet, habe ich meine Mutter niemals fassungslos gesehen, weder vor Freude noch vor Kummer. Sie lächelte, lachte aber niemals laut. Sie runzelte die Stirn, wurde aber nie wütend. Als ich jünger war, habe ich mir nicht vorstellen können, dass sie von all den Leidenschaften und Träumen und dem Herzschmerz verschont geblieben sein soll, die mich durchs Studium und meine Karriere begleitet hatten. Ich konnte sie mir nicht verrückt vor Leidenschaft vorstellen oder vor Enttäuschung zerrissen. Sie erschien mir so stoisch und gleichmütig wie eine Steinsäule. In mancherlei Hinsicht war es tröstlich; in stürmischen Zeiten war sie mir immer ein sicherer Hafen gewesen.
Jahre nachdem ich von Zuhause ausgezogen war, mein Studium an der NYU abgeschlossen hatte und mein eigenes Geld verdiente, erzählte
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