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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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sagte sie schließlich.
    Der Empfangstresen stand direkt an der Tür; dahinter erstreckte sich der Raum mit den abgetrennten Arbeitsnischen, wo die Programmierer saßen. Nacheinander streckten alle den Kopf über die Trennwand, wie Präriehunde, die neugierig aus ihrem Erdloch lugen. Von seinem Platz aus konnte er problemlos verfolgen, wie Marcus Raine nach vorn ging und ihr die Tüte abnahm. Bei seinem Anblick hellte Camillas Miene sich auf. Ihr Lächeln wurde breiter - nein, herzlicher -, als Raine einen starken Arm um ihre Taille schlang und sie auf den Mund küsste. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie stieß ein helles, melodisches Lachen aus. Es klang wie Eiswürfel in einem Glas.
    Auf einmal war Marcus Raine keine Lachnummer mehr. Das hämische Lächeln der Kollegen verschwand, und ihre Gesichter gefroren zu Masken der Missgunst.
     
    Er hatte lange nicht mehr an die erste Begegnung mit Camilla gedacht, an das Verlangen, das er damals verspürte. Es war ganz anders als sein Verlangen nach Isabel, weniger kühl, weniger intellektuell. Seine Liebe zu Isabel verband ihn mit seinen gehobeneren Gefühlen, mit dem besseren Menschen in ihm. Seine Gier nach Camilla war ganz primitiver Natur; er war wie ein Alligator, der in einem Sumpf Fleisch von einem Gerippe reißt.
    Später in derselben Woche sah er sie wieder, diesmal nicht zufällig. Er blieb in seiner Arbeitsnische sitzen, bis er Raines Kopf über der Trennwand vorbeischweben sah. Eilig sammelte er seine Sachen zusammen und sprang die Treppe hinunter, während der Aufzug Raine gemächlich ins Erdgeschoss brachte. Er kam gerade rechtzeitig unten an, als Raine durch die Glastür auf die Canal Street trat. Es war Sommer, fast acht Uhr und immer noch hell.
    Die Luftfeuchtigkeit legte sich ihm augenblicklich als dünne Schweißschicht auf die Stirn. Er folgte Raine in sicherem Abstand durch die überfüllten Straßen, vorbei an den plärrenden Lautsprechern der Elektrogeschäfte und den unzähligen Straßenständen mit gefälschten Designerhandtaschen. Es roch nach Autoabgasen und gebratener Ente.
    Camilla - bezaubernd in Blau mit einer schlichten Bluse, einem passenden, fließenden Rock und Flip-Flops an den Füßen - stand am U-Bahn-Ausgang und wartete auf Raine. Sie war wie eine frische, reine Brise in der dreckigen Stadt. Raine gab ihr einen flüchtigen Kuss, und zusammen gingen sie die Treppe hinunter.
    Er stellte sich zwischen die Türen zweier Waggons und beobachtete das Pärchen durch die schmutzige Glasscheibe. Sie bemerkten ihn nicht, waren voll und ganz miteinander beschäftigt. Raine hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt und hielt ihre zarte Hand. Sie schaute mit diesem offenherzigen Lächeln zu ihm auf. Raine war wie verwandelt, er wirkte lebhaft, glücklich, entspannt und gar nicht mehr wie die Spaßbremse im Büro, die freudlos auf den Monitor starrt, im Pausenraum schweigend ihr Sandwich kaut, auf Fragen mit kaum mehr als einem Grunzen antwortet und knappe, einzeilige E-Mails verschickt. Neben Camilla wirkte er wie der charmanteste, charismatischste Herzensbrecher, der je auf Gottes Erde wandelte.
    Als sie Uptown ausstiegen, folgte er ihnen bis zu einem hübschen Altbau an der Upper West Side. Ein Portier in marineblauer Uniform hielt ihnen die Tür auf, und sie verschwanden. Als er allein auf der Straße zurückblieb, überkam ihn ein schreckliches Begehren. Ihm wurde buchstäblich übel, wenn er an das Loch in Williamsburg dachte, in dem er zusammen mit seinem schlampigen Bruder hauste. Obwohl er von seinem Gehalt in seiner Heimat wie ein König hätte leben können, fühlte er sich hier, in dieser Hure von einer Stadt, wo alles, was er sich ersehnte, direkt vor seiner Nase lag und dennoch außer Reichweite, wie ein Bettler.
    Er hatte schnell gelernt, dass man es in diesem Land nur als Dieb zu etwas brachte. Die reichen Amerikaner, von deren Lebensstil alle träumten, hatten sich ihren Wohlstand nicht erarbeitet, hatten nicht als Tellerwäscher angefangen und sich durch harte Arbeit und gute Laune nach oben gekämpft, auch wenn das alle glaubten. Die Reichen hatten einfach Glück gehabt - wie Marcus Raine - oder waren vom rechten Weg abgewichen und hatten für ihr Geld gestohlen, betrogen und gemordet. Sie waren Piraten. Diese Tatsache machte ihn nicht wütend, sondern gierig und einfallsreich.
    Anders als Marcus hatte sich Ivan nie für eine Ausbildung oder einen guten Job interessiert und schon bald Kontakt zum Milieu gesucht. Nicht lange

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