Hueter der Daemmerung
sich in meine. Als mir aufging, wer er war, riss meine Gedankenkette ab.
Der Junge aus meinem Traum.
Er kam auf mich zu und fiel vor mir auf die Knie. Der zerschlissene Rucksack, den er trug, glitt zu Boden. Er schluckte, blickte auf meine Arme herunter. Dann streckte er die Hand aus und berührte sie – ich konnte spüren, wie er zitterte. Er strich mir über die Arme, als wolle er sich vergewissern, dass ich echt war. Als er bei meinen Händen angelangt war, umfasste er sie mit festem Griff. Seine eigenen Hände waren rau und warm. Er sagte etwas auf Spanisch.
»Ich …« Warum machte ich mich nicht los? Es war, als hätte er mich mit einem Zauberbann belegt. »Ich spreche kein Spanisch«, stammelte ich. »No hablo espanol.« Dann begann ich doch, zurückzuweichen – aber auf einmal überschwemmte mich seine Energie und ich rang fassungslos nach Luft. Ich konnte mich nicht rühren. Sie war mir so vertraut, durch und durch vertraut, wie nichts zuvor in meinem Leben.
Der Junge sah auf. Seine Augen hatten die Farbe von Haselnüssen – ein warmes Braun, gemischt mit Grün. »Ja, ich weiß … tut mir leid, ich hab’s vergessen.« Seine Stimme klang abwesend, als dächte er nicht darüber nach, was er sagte. Er schüttelte den Kopf und starrte mich an, während sich ein verwundertes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Du bist es wirklich«, flüsterte er. »Ich kann nicht glauben, dass ich dich gefunden habe.« Er ließ eine meiner Hände los und berührte meine Wange. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und ließ die Stoppeln auf seinem Kinn golden aufleuchten.
Ich riss mich los, mein Herz klopfte heftig. »Wer bist du?«
Er wollte antworten, unterbrach sich aber. Wir sahen es beide gleichzeitig: Ein funkelnder Schwärm, der aus mindestens hundert Engeln bestand, flog in einem langen Strom in Richtung Osten über den Park. In ihrem Zentrum befand sich eine kleine Gruppe, die noch feuriger leuchtete als die anderen – so grell, dass ich sie kaum ansehen konnte.
Als mir klar wurde, warum mir der Anblick so bekannt vorkam, setzte mein Herzschlag für einen Moment aus. Sämtliche Bestandteile meines Traums wurden auf einen Schlag Wirklichkeit, sodass ich schon nicht mehr wusste, was real war und was nicht. Zuerst der Junge und jetzt die zwölf Engel – ich konnte die Gestalten zählen, die dort oben am Himmel strahlten und flatterten. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, mein Hirn war völlig überfordert. Wieso waren sie jetzt schon hier? Sie sollten doch erst in fünf Wochen nach Mexico City kommen.
Mit offenem Mund stand ich auf. Der Junge war ebenfalls wieder auf die Beine gekommen. »Das Konzil«, wisperte ich. »Oh mein Gott, das ist das Konzil aus meinem Traum. Wir müssen ihnen folgen, wir müssen sehen, wo sie hinfliegen – Alex!« Ich drehte mich um und rief: »Alex, schnell! Das Konzil kommt!«
Bei der Erwähnung meines Traums warf mir der Junge einen schnellen Blick zu. Er schnappte sich seine Tasche. »Los, komm, wir müssen uns beeilen«, sagte er.
»Alex!«, schrie ich noch einmal, wusste aber, dass er mich nicht gehört hatte. Ein kleiner Teil meiner Gedanken war noch immer bei ihm und ich konnte spüren, dass es ihm gut ging, dass er sich freute. Demnach hatten sie gegen die Engel gewonnen – und hatten diese größere Gruppe mit dem Konzil in ihrer Mitte noch nicht entdeckt.
»Komm schon!«, drängte der Junge, packte meine Hand und spähte nach oben.
»Warte – lass mich los! Ich muss meinem Freund …«
»Dazu ist keine Zeit!« Der Junge fing an zu rennen und zog mich hinter sich her. Ich gab auf und begann ebenfalls zu laufen. Er hatte recht, dazu war keine Zeit mehr. Und darüber hinaus … und darüber hinaus konnte ich mich ihm irgendwie nicht widersetzen.
Wir stürmten zwischen den Bäumen hindurch auf den Fußpfad. Der Junge umklammerte meine Hand, seine langen Beine griffen rhythmisch aus. Immer wieder verschwanden die Engel für kurze Zeit aus unserem Blickfeld. Unter seiner Führung liefen wir in einem scharfen Zickzackkurs über die verschiedenen Wege. Wir jagten an Straßenhändlern vorbei, preschten ein paar Stufen hinunter und schlugen einen Bogen um einen Teich. Aufgeschreckte Enten flatterten davon.
Ich hätte ihn gerne gebeten, langsamer zu laufen. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen und rannte noch schneller. Der Junge drehte sich halb zu mir um. Er legte einen Arm um mich und half mir kurz.
»Beeil dich, querida !«
Der Kosename aus meinem
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