Hueter der Daemmerung
meine Wange.
Ich zuckte zurück und fand es furchtbar, wie mein Herz bei seiner Berührung angefangen hatte zu flattern. »Hör auf damit!
Was ist hier eigentlich los? Du hast gesagt, du hast mich gefunden – was meinst du damit? Warum hast du nach mir gesucht?«
Seine haselnussbraunen Augen weiteten sich. Ich konnte sehen, dass ich ihn schockiert hatte. »Du weißt es nicht«, sagte er, wie zu sich selbst. »Aber wie kann das sein? Du musst doch sehen …« Er brach ab und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Warte mal … warum verwandelt sie sich nicht?«
»Verwandeln? Was denn?« Vorsichtig trat ich einen Schritt zurück und fragte mich, warum ich immer noch hier stand und mit diesem Typen sprach. Und Alex. Was um alles in der Welt würde Alex denken? Soweit er wusste, war ich ohne ein Wort von der Bildfläche verschwunden. Ich musste zurück. Er würde nicht einmal wissen, wie er mich finden sollte.
»Deine …« Seb deutete ungeduldig auf sich selbst und beschrieb einen schnellen Kreis um seinen Körper. »Ich weiß das Wort auf Englisch nicht. Deine Energie. Dein Ich.«
Mir ging ein Licht auf: »Aura.«
»Ja, Aura. Du solltest deine wahre Aura nicht so offen zeigen -die Engel könnten dich sehen.«
Die Zeit verlangsamte sich, als ich mir ins Bewusstsein rief, dass er die Engel ebenfalls gesehen hatte. Die Erkenntnis traf mich mit voller Wucht, und es gab nur noch uns beide, die auf der Brücke standen. Ich konzentrierte mich auf Seb, bis seine Aura sichtbar wurde. Sie war von einem blassen Grün, das von Lichtflecken in einem dunkleren Grün durchsetzt war.
»Zeig sie mir«, flüsterte ich.
Er verstand, was ich meinte, ohne dass ich es erklären musste. Ein weiches Gekräusel, und seine Aura veränderte sich. Silber, mit waldgrünen Lichtern, die darin aufglommen. Wie im Traum streckte ich meine Hand aus und zog sie durch die sanft changierenden Farben, als könne ich sie fangen. Ich sah zu, wie sie auf meinen Fingern schillerten. Seb stand ganz still. Ich spürte, wie er erschauerte, und begriff, dass er dies fühlen konnte, ganz so, als würde ich seine Haut streicheln.
Ich ließ die Hand sinken, konnte aber nicht aufhören, die wunderschönen silbrigen Lichter anzustarren. In meinen Augen standen Tränen – die Worte wollten gar nicht kommen.
»Du bist ein Halbengel«, sagte ich. »Ich dachte … ich dachte, ich wäre der einzige auf der Welt.«
Seb stieß beinahe so etwas wie ein Schluchzen aus. »Ja! Ja, ich auch … ich auch.« Er versuchte noch mehr zu sagen, doch er schien nicht weitersprechen zu können. Er griff nach meiner Hand und drückte sie heftig.
Ich stand da, seine Finger umklammerten meine, während wir uns ansahen. Ich sollte meine Hand wegziehen, dachte ich … doch stattdessen erwiderte ich seinen festen Griff. Erneut konnte ich seine Energie spüren, und jetzt ergab alles einen Sinn. Sie fühlte sich so warm und vertraut an, weil ich zum allerersten Mal jemanden berührte, der so war wie ich. Die überwältigende Empfindung von Gemeinsamkeit war unbeschreiblich. Und etwas, das jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten, wie ich jetzt wusste, als völlig selbstverständlich hinnahm. Aber es nie erfahren zu haben, und es jetzt unvermutet zu finden, nach siebzehn Jahren … oh Gott, es war, wie in ein warmes Bad zu sinken und nicht zu wissen, wo meine Haut aufhörte und das Wasser anfing.
Sebs Augen waren so voller Staunen, dass er schon fast verängstigt wirkte. Und ich wusste, dass er haargenau dasselbe empfand. Weitere Erkenntnisse folgten: Schnappschüsse aus seinem Leben wirbelten durch meinen Kopf. Das Waisenhaus, in dem er zurückgelassen worden war; das Leben auf der Straße; eine Jugendstrafanstalt, die so grauenvoll war, dass ich vor Mitleid zusammenzuckte. Und darüber hinaus bekam ich einen Eindruck von ihm. Von seiner inneren Stärke. Seinem trockenen Sinn für Humor, den er sich irgendwie bewahrt hatte. Dem Charme, der die grenzenlose Einsamkeit überdeckte, die ihn manchmal überfiel. Er hatte schon als kleines Kind gewusst, dass er ein Halbengel war – und hatte sich den größten Teil seines Lebens allein gefühlt. Er hatte so viele Jahre gesucht. So viele Jahre.
Und dahinter, stetig wie ein Herzschlag, verbarg sich ein derart intensives Gefühl, dass es mir den Atem raubte.
Nein, ich muss mich irren, dachte ich verwirrt. Er konnte nicht so für mich empfinden – das ergab keinen Sinn. Wir waren uns doch gerade erst begegnet.
»Wie hast du mich
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