Hueter der Daemmerung
Traum verblüffte mich, selbst als wir weiterrannten. Und unvermittelt fiel mir auf, dass er die Engel genauso mühelos hatte sehen können wie ich, ohne zunächst seine Bewusstseinsebene zu verändern. Wer war dieser Junge?
Die Engel waren uns jetzt weiter voraus, aber immer noch in Sichtweite. Der Junge verlangsamte seinen Schritt und stoppte an einer Brücke, die von einem Paar schwarzer Löwen auf zwei Podesten flankiert wurde. Er war kaum außer Atem. Vor uns konnte ich ein Parktor ausmachen.
Wir standen nebeneinander. Hinter dem Park ragte ein gut sichtbarer einsamer Turm hinter den Bäumen auf – ein Halbzylinder aus grünem Glas, der mit einer halbmondförmigen Glasfläche abschloss, in der sich die Wolken spiegelten. Die Engel hielten auf diese geneigte Spitze zu und umschwärmten sie wie Motten das Licht. Sie schraubten sich in leuchtenden Kreisen rund um den Turm in die Höhe, sodass es aussah, als stünde er in Flammen.
Dunkel war ich mir bewusst, dass der Junge wieder den Arm um mich gelegt hatte und mich an sich zog. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kam mir das nicht merkwürdig vor. »Was ist da los?«, japste ich. »Ist das das Nikko Hotel?«
Er schüttelte den Kopf, genauso wenig in der Lage, sich von dem Anblick loszureißen, wie ich. »Nein, das ist La Torre Mayor, der große Turm. Ein Bürogebäude.«
Eine Frau schob ahnungslos einen Kinderwagen an uns vorbei. Oben am Himmel verschwanden die Engel einer nach dem anderen in den Wolkenkratzer. Die zwölf hellsten waren die Ersten, die in den gläsernen Halbmond hineinglitten. Die anderen folgten nach und nach, bis auch der letzte Engel mit einem Flügelschimmern aus unserem Blick entschwunden war.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, murmelte der Junge. Sanft rieb er mir den Arm. »So viele … und die zwölf in der Mitte waren so hell …«
»Das ist das Engelskonzil«, sagte ich, während ich immer noch in die Höhe starrte. »Ich habe sie gesehen …«
»Konzil?« Stirnrunzelnd schaute der Junge zu mir herunter. »Du meinst ihre Regierung?«
Ich nickte. »Ich habe von ihnen geträumt. Zwölf Engel und …« Ich verlor den Faden. Bei der Erwähnung meines Traums war der Junge erstarrt, er sah mich unverwandt an und ich wusste, dass er keinen Gedanken mehr an das Konzil verschwendete. Plötzlich realisierte ich, dass ich mich an ihn presste. Mein Kopf lag beinahe an seiner Brust. Großer Gott, was tat ich da bloß?
Peinlich berührt machte ich einen Satz nach hinten. »Hör mal, wer bist du überhaupt? Denn das hier ist … extrem seltsam.«
Ohne mich aus den Augen zu lassen, lehnte sich der Junge an den Sockel der einen Statue. Er sah mager, aber kräftig aus, die Schultern unter seinem langärmligen T-Shirt waren ebenso hart wie die von Alex.
»Mein Name ist Seb.«
»Seb?«
»Sebastian«, ergänzte er. In seinen Augen stand eine solch ungläubige Freude, während er mich mit seinen Blicken verschlang, als könne er nie wieder woanders hinsehen. »Sebastian Carrera. Und deiner?«
Aus irgendeinem Grund war es mir nicht in den Sinn gekommen, dass er noch nicht wusste, wie ich hieß. Er schien mich so gut zu kennen. »Willow Fields«, sagte ich.
»Willow«, wiederholte er. Sein Akzent verwandelte das Wort in einen sanften Seufzer: Willow. Er lächelte, wirkte plötzlich beinahe schüchtern. »Das ist ein Baum, oder?«
Der Ausdruck in Sebs Gesicht war genauso wie in meinem Traum und als ich ihn jetzt anschaute, sah ich, wie präzise mein Traumbild gewesen war: die lockigen braunen Haare, die hohen Wangenknochen und der perfekte Mund. Die Bartstoppeln, die sein Kinn betonten und ihn noch attraktiver machten, als er es ohnehin schon war. Mein Gott, was hatte das zu bedeuten, dass er tatsächlich existierte? Und dass er hier war?
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und fühlte mich unwohl, wofür es so viele Gründe gab, dass ich sie gar nicht alle benennen konnte. »Ja, das ist ein Baum.«
»Ein hübscher Name.« Sebs Blick blieb an meinem Haar hängen. »Es ist anders«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Vorher warst du blond.«
»Woher …« Ich verstummte, schluckte. »Ich habe es gefärbt.«
Auf einmal grinste er und schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich hier stehe und mich mit dir unterhalte. Willow – du bist so, so schön.« Wieder streckte er die Hand nach meinem Gesicht aus, als könne er nicht anders und zog mit dem Finger eine sanfte Linie über
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