Hueter der Erinnerung
ersten Mal in seinem zwölfjährigen Leben fühlte Jonas sich anders, auf sich gestellt. Er erinnerte sich daran, was die Chefälteste gesagt
hatte: dass er während seiner Ausbildung allein und isoliert sein würde.
Obwohl die Ausbildung noch gar nicht begonnen hatte, spürte Jonas schon an diesem Abend, als er das Auditorium verließ, den
plötzlichen Abstand zu den anderen. Er umklammerte die Mappe, die er erhalten hatte, als er sich durch die Menschenmenge wühlte
und nach seiner Familie und nach Asher Ausschau hielt. Leute wichen respektvoll zur Seite. Sie beobachteten ihn. Er glaubte,
sie sogar flüstern zu hören.
»Ash!«, rief er, als er seinen Freund bei den Rädern entdeckte. »Fahren wir zusammen nach Hause?«
»Klar.« Asher lächelte wie immer, freundlich und vertraut. Und doch hatte Jonas den Eindruck, sein Freund hätte einen Moment
lang gezögert.
»Gratuliere«, sagte Asher.
»Ich dir auch«, antwortete Jonas. »Es war wirklich lustig, als sie die Sache mit den Hieben erzählte. Du bekamst mehr Applaus
als fast alle anderen.«
Die anderen neuen Zwölfer versammelten sich um ihre Räder und schoben die Info-Mappen in die Satteltaschen ihrer Räder. In
vielen Häusern derGemeinschaft würden heute Abend eifrig die Info-Broschüren studiert werden, die Hinweise für die kommende Berufsausbildung
enthielten.
In den letzten Jahren hatten die neuen Zwölfer nichts anderes getan, als allabendlich den Stoff für den nächsten Schultag
zu pauken, und dabei oft vor Langeweile gegähnt. Die Anweisungen für ihre Berufsausbildung würden sie heute Abend jedoch mit
der größten Begeisterung auswendig lernen.
»Ich gratuliere dir, Asher!«, rief jemand. Nach einem Moment des Zögerns kam dann: »Dir auch, Jonas!«
Asher und Jonas gratulierten ihren Klassenkameraden ebenfalls. Jonas sah, dass seine Eltern und Lily bei den Fahrrädern standen
und herüberblickten. Lily war bereits auf dem Rücksitz festgeschnallt.
Er winkte. Sie winkten lächelnd zurück, aber Jonas bemerkte, dass Lily, den Daumen im Mund, ihn fast ehrfürchtig anblickte.
Jonas fuhr direkt nach Hause und wechselte unterwegs mit Asher nur die üblichen Witzeleien und belanglosen Worte.
»Wir sehen uns dann morgen früh, Herr Direktor für Spiel und Sport!«, rief er, als er vom Rad stieg, während Asher weiterfuhr.
»Ja! Bis morgen!«, rief Asher zurück. Und schon wieder hatte Jonas für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als seien die Dinge
anders als früher und nicht mehr so, wie sie während ihrer langjährigenFreundschaft gewesen waren. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Die Dinge konnten sich nicht ändern, nicht mit
Asher.
Das Abendessen verlief ruhiger als sonst. Lily erzählte mit strahlenden Augen, wo sie ihre Praktikumsstunden zu verbringen
gedachte. Als Erstes würde sie ins Säuglingszentrum gehen, da sie – dank Gabriel – schließlich bereits eine wahre Expertin
beim Babyfüttern war.
»Keine Angst«, fügte sie schnell hinzu, als Vater ihr einen warnenden Blick zuwarf, »ich werde seinen Namen nicht erwähnen.
Ich weiß, dass ich ihn gar nicht wissen darf.«
»Ich kann den morgigen Tag kaum erwarten«, sagte sie hochzufrieden.
Jonas seufzte gequält. »Ich schon«, murmelte er.
»Dass du auserwählt wurdest, ist eine große Ehre für dich«, sagte Mutter. »Dein Vater und ich sind sehr stolz auf dich.«
»Es ist die wichtigste Aufgabe in unserer Gemeinschaft«, betonte Vater.
»Aber erst neulich hast du gesagt, dass die Zuteilung der Berufe die wichtigste Aufgabe ist!«
Mutter nickte. »Das ist etwas anderes. Das ist eigentlich nicht nur eine Aufgabe. Ich hätte nie gedacht, nie erwartet, dass …« Sie machte eine kurze Pause. »Es gibt nur einen einzigen Hüter und du bist sein Nachfolger.«
»Aber die Chefälteste hat gesagt, dass sie vor einigenJahren schon einmal einen Nachfolger bestimmt hatten und dass es eine Fehlentscheidung war. Was hat sie damit gemeint?«
Beide Eltern zögerten. Schließlich räusperte sich Vater und erzählte von der letzten Wahl. »Es war sehr ähnlich wie heute,
Jonas – dieselbe Spannung, als ein Elfer bei der Berufsvergabe übersprungen wurde. Dann die Ansage, dass sie jemanden auserwählt
hatten …«
Jonas unterbrach ihn. »Wie war sein Name?«
Seine Mutter erklärte: »Ihr, nicht sein Name. Es war ein Mädchen. Aber wir dürfen ihren Namen nie wieder aussprechen und auch
nie wieder wird ein Kind diesen Namen
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