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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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durchlas, begriff er, dass ein gequetschter Finger unter die Kategorie »nicht zur Ausbildung
     gehörend« fiel. Wenn so etwas also jemals wieder passierte – aber er warsich fast sicher, dass es nicht mehr vorkommen würde, denn seit jenem Unfall war er sehr vorsichtig im Umgang mit schweren
     Türen   –, bekäme er trotzdem ein schmerzlinderndes Mittel.
    Die Pille, die er jeden Morgen nahm, hatte ebenfalls nichts mit seiner Ausbildung zu tun. Er würde sie folglich auch in Zukunft
     nehmen dürfen.
    Aber da fiel ihm wieder ein, dass die Chefälteste etwas von körperlichen Schmerzen während der Ausbildung gesagt hatte. Sie
     hatte sie sogar als unerträglich bezeichnet.
    Jonas schluckte und versuchte vergeblich, sich vorzustellen, welcher Art diese Schmerzen sein könnten, die er ganz ohne Medikamente
     ertragen musste. Doch er konnte sie sich einfach nicht vorstellen.
    Punkt sieben rief keinerlei Reaktion in ihm hervor. Noch nie und unter keinen Umständen wäre es ihm je in den Sinn gekommen,
     einen Antrag auf Freigabe zu stellen.
    Schließlich wappnete er sich, um den letzten Punkt noch einmal zu lesen. Von frühester Kindheit an war ihm eingeschärft worden,
     dass man nicht lügen durfte. Das war ein unerlässlicher Bestandteil der Spracherziehung. Einmal, als Vierer, hatte er kurz
     vor zwölf Uhr mittags in der Schule »Ich bin am Verhungern« gesagt.
    Sofort war er für eine kleine Nachhilfestunde in puncto Sprachgenauigkeit beiseitegenommen worden. Er sei nicht am Verhungern,
     hatte ihm sein Lehrererklärt, sondern er sei einfach nur hungrig. Kein Mensch in ihrer Gemeinschaft sei am Verhungern, wäre je verhungert oder
     würde in Zukunft verhungern. Wer sagte, er sei am Verhungern, log. Natürlich nicht absichtlich, aber trotzdem! Der Grund für
     die geforderte sprachliche Präzision war es, ebensolche unabsichtlichen Lügen von vornherein auszuschalten. Ob er das verstünde,
     wurde er gefragt. Ja, das hatte er verstanden.
    Soweit er sich erinnerte, war er noch nie versucht gewesen zu lügen. Asher log nicht. Lily log nicht. Seine Eltern logen nicht.
     Niemand log. Es sei denn   …
    Plötzlich schoss Jonas ein unerhörter Gedanke durch den Kopf. Ein schrecklicher Gedanke. Was wäre, wenn andere – Erwachsene
     – bei ihrer Zwölfer-Zeremonie dieselbe schreckliche Anweisung erhalten hatten wie er?
    Was, wenn allen gesagt worden war:
Lügen ist dir ab sofort erlaubt?
    In seinem Kopf drehte sich alles. Jetzt, da er die Erlaubnis hatte, auch die unhöflichsten Fragen zu stellen – und alle anderen
     ihm antworten mussten   –, war es da theoretisch nicht möglich (wenn auch ganz und gar unvorstellbar), dass er jeden Erwachsenen, beispielsweise seinen
     Vater, ganz einfach fragen könnte: »Lügst du?«
    Aber woher um alles in der Welt sollte er wissen, ob die Antwort, die er dann erhalten würde, auch stimmte?

10
    »Ich muss hier hinein, Jonas«, sagte Fiona, als sie vor dem Portal des Altenzentrums angekommen waren und ihre Räder auf der vorgesehenen Parkfläche abgestellt
     hatten.
    »Ich weiß gar nicht, warum ich ein bisschen nervös bin«, gestand sie. »Ich komme schließlich nicht zum ersten Mal hierher.«
     Sie spielte ein bisschen verlegen an ihrer Info-Mappe herum.
    »Ja, aber jetzt ist alles anders«, gab Jonas zu bedenken.
    »Sogar die Namensschilder an den Rädern«, sagte Fiona lachend.
    Im Laufe der Nacht waren die Namensschilder hinten am Fahrrad von den Arbeitern der öffentlichen Ordnung entfernt und durch
     neue Schilder ersetzt worden, die nun auch den neuen Ausbildungsstatus der Zwölfer kennzeichneten.
    »Ich möchte nicht zu spät kommen«, erklärte Fiona hastig und lief die Stufen hinauf. »Wenn wir zur selben Zeit fertig sind,
     können wir ja zusammen nach Hause fahren.«
    Jonas nickte, winkte ihr zu und ging um das große Gebäude herum zum Nebengebäude, einem kleinen Flügel auf der Rückseite.
     Auch er legte Wert darauf, am ersten Tag seiner Ausbildung pünktlich zu sein.
    Der Anbau war ein unauffälliges Gebäude mit einerebenso unauffälligen Tür. Jonas wollte schon zum schweren Türknopf greifen, da bemerkte er den Summer an der Wand. Er drückte
     darauf.
    »Ja?« Die Stimme kam durch die kleine Sprechanlage über dem Summer.
    »Ich bin’s, hm, Jonas. Ich bin der neue   … ich meine   …«
    »Tritt ein.« Ein leises Klicken und die Tür war jetzt offen.
    Die Eingangshalle war recht klein. Es stand nur ein Pult darin, an dem eine weibliche

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