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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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erhalten.«
    Jonas war schockiert. Ein Name, der nicht mehr ausgesprochen werden durfte, bedeutete, dass sein letzter Träger in höchste
     Ungnade gefallen war.
    »Was ist mit ihr passiert?«, fragte Jonas nervös.
    Die Gesichter seiner Eltern blieben ausdruckslos. »Wir wissen es nicht«, sagte Vater nüchtern. »Wir haben sie nie mehr gesehen.«
    Stille legte sich über den Raum. Sie sahen einander an. Schließlich erhob Mutter sich von ihrem Stuhl und sagte: »Es ist eine
     große Ehre für dich, Jonas. Eine große Ehre.«
     
    Allein in seinem Zimmer, bereits im Pyjama, öffnete Jonas endlich seine Info-Mappe. Einige seiner Klassenkameraden hatten,
     wie er bemerkt hatte, sehr dickeAktenordner mit vielen bedruckten Seiten erhalten. Jonas stellte sich vor, wie Benjamin, das naturwissenschaftliche Genie
     seiner Gruppe, bereits mit Hochgenuss seitenlange Abhandlungen über Regeln und Anweisungen verschlang. Fiona würde ihre Info-Mappe
     bestimmt mit einem sanften Lächeln auf den Lippen studieren und sich bereits auf die Pflichten und Arbeitsmethoden freuen,
     die sie in den nächsten Tagen und Monaten kennenlernen würde.
    Seine eigene Mappe hingegen war erstaunlich dünn. Als er sie aufklappte, fand er nur ein einziges Blatt darin. Er las es gleich
     zweimal hintereinander.
     
     
    Jonas   – Hüter der Erinnerungen
     
Begib dich jeden Tag nach Schulschluss sofort in das Nebengebäude hinter dem Altenzentrum und melde dich beim Pförtner.
Geh nach den Ausbildungsstunden direkt und ohne Umwege nach Hause.
Ab sofort bist du von allen Regeln der Höflichkeit befreit. Du kannst jedem Bürger jede beliebige Frage stellen und wirst
     von ihm eine Antwort erhalten.
Sprich mit keinem Mitglied der Gemeinschaft über deine Ausbildungsstunden, auch nicht mit deinen Eltern oder den Ältesten.
Ab sofort ist es dir untersagt, über deine Träume zu sprechen.
Medikamente darfst du nur noch für Krankheiten oder Verletzungen einnehmen, die nichts mit deiner Ausbildung zu tun haben.
Es ist dir untersagt, einen Antrag auf Freigabe zu stellen.
Lügen ist dir ab sofort erlaubt.
     
    Jonas war verblüfft. Was würde aus seinen Freundschaften werden? Dem Ballspielen oder mit dem Fahrrad am Fluss entlangfahren?
     Diese unbeschwerten Stunden waren ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, an dem er sehr hing. War ihm das jetzt alles genommen?
     Dass er formelle Informationen erhielt – wann er wo erscheinen musste, das hatte er erwartet. Jedem Zwölfer wurde natürlich
     mitgeteilt, wo und wie und wann er seine Ausbildung antreten musste. Aber er war doch sehr bestürzt, dass sein Ausbildungsplan
     ihm offensichtlich gar keine Freizeit ließ.
    Dass er die Regeln der Höflichkeit nicht mehr beachten musste, wunderte ihn. Doch als er sich Punkt drei nochmals durchlas,
     begriff er, dass er deshalb keineswegs unhöflich sein musste. Er hatte nur schlicht und einfach die Wahl. Er beschloss, keinen
     Vorteil daraus zu ziehen. Er war so sehr daran gewöhnt, stets höflich zu sein, dass ihm der Gedanke, einem Mitbürger eine
     vertrauliche Frage zu stellen oder ihn auf etwas hinzuweisen, was diesen in Verlegenheit bringen könnte, gar nicht erst in
     den Sinn kommen würde.
    Das Verbot, seine Träume zu erzählen, dachte er, würde kein Problem darstellen. Er träumte so selten, dass er im Träumeerzählen
     sowieso kaum Übung hatte, und er war froh, diesem Zwang in Zukunft entkommen zu können. Er fragte sich jedoch kurz, wie er
     sich beim Frühstück verhalten sollte. Wenn er tatsächlich etwas geträumt hatte, sollte er seiner Familie dann einfach wie
     schon so oft sagen, dass er nichts geträumt hatte? Das wäre eine Lüge. Aber immerhin, der letzte Punkt besagte   … Nun, über den letzten Punkt seiner Anweisungen wollte er im Moment noch nicht nachdenken.
    Dass er keine Medikamente bekommen sollte, störte ihn sehr. Medikamentöse Behandlung war für einen Bürger der Gemeinschaft
     selbstverständlich und auch Kinder bekamen Arzneien von ihren Eltern, wann immer sie danach verlangten. Damals, als er seinen
     Finger in der Tür eingeklemmt hatte, hatte er ganz schnell über die Sprechanlage seine Mutter herbeigerufen. Sie hatte sofort
     ein Schmerzmittel angefordert, das innerhalb kürzester Zeit zu Hause abgeliefert wurde. Die unerträglichen Schmerzen in seiner
     Hand hatten fast sofort aufgehört, und soweit er sich erinnerte, hatte er dann nur noch ein Hämmern und Pochen gespürt.
    Als er sich Punkt sechs noch einmal

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