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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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Angestellte über einigen Papieren saß.
     Sie blickte auf, als Jonas eintrat; dann, zu seiner großen Überraschung, erhob sie sich. Es war nur eine Kleinigkeit, dieses
     Aufstehen. Aber noch nie war bisher jemand aufgestanden, wenn Jonas einen Raum betrat.
    »Willkommen, Hüter der Erinnerungen«, sagte sie respektvoll.
    »Oh, bitte«, entgegnete Jonas verlegen. »Jonas wäre mir lieber.«
    Sie lächelte, drückte auf einen Knopf und er hörte ein Klicken, das die Tür zu ihrer Linken entriegelte. »Du kannst gleich
     hineingehen«, sagte sie.
    Dann bemerkte sie seine Bestürzung und begriff auch, woher sie rührte. Keine Tür in der Gemeinschaft war je verschlossen,
     nie. Zumindest hatte Jonas das bisher noch nie erlebt.
    »Die Schlösser dienen nur dazu, die Privatsphäre des Hüters zu schützen, weil er sich oft konzentrierenmuss«, erklärte sie. »Deshalb wäre es für ihn sehr störend, wenn ständig Leute hereinkämen, die nach der Reparaturwerkstätte
     für ihre Räder oder Ähnlichem fragen.«
    Jonas lachte und fühlte sich gleich wieder wohler. Die Frau schien sehr nett zu sein und es stimmte – auch darüber kursierten
     ständig Witze   –, dass die Reparaturwerkstätte für Fahrräder so oft umgesiedelt wurde, dass kein Mensch je wusste, wo sie sich zurzeit gerade
     befand.
    »Hier gibt es nichts Gefährliches«, erklärte sie. »Aber«, fügte sie mit einem vielsagenden Blick auf die Wanduhr fort, »er
     schätzt es nicht, wenn man ihn warten lässt.«
    Jonas eilte durch die besagte Tür und stand dann in einem gemütlich eingerichteten Raum, nicht viel anders möbliert als die
     Zimmer zu Hause. In der ganzen Gemeinschaft gab es Standardmöbel: praktische, stabile und zweckmäßige Sachen. Ein Bett zum
     Schlafen. Einen Tisch zum Essen. Einen Schreibtisch zum Lernen.
    All diese Möbelstücke befanden sich auch in diesem Raum hier, obwohl sie bei näherem Hinsehen doch einige Unterschiede zu
     den Möbeln zu Hause aufwiesen. Die Stoffe auf den Polsterstühlen und der Couch waren dicker und luxuriöser. Die Tischbeine
     waren nicht schlicht und gerade wie die daheim, sondern schlanker und leicht gebogen, und unten waren sogar Schnitzereien
     angebracht. Auf dem Bett,das sich in einer Nische am anderen Ende des Raums befand, lag eine wunderschöne Decke, die über und über mit einem verworrenen
     Muster bestickt war.
    Den auffallendsten Unterschied jedoch bildeten die Bücher. In der Wohnung seiner Eltern standen natürlich die Standardwerke,
     die zu jedem Haushalt gehörten: ein Wörterbuch und der dicke Gemeinschaftsführer, in dem alle Fabriken, Ämter und Gebäude
     aufgeführt und beschrieben waren, auch der Aufbau des Komitees. Und natürlich auch das Große Buch der Regeln.
    Die Bücher bei ihm zu Hause waren die einzigen Bücher, die Jonas je zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte nicht einmal gewusst,
     dass es noch andere Bücher gab.
    Die Wände dieses Raumes hier bestanden nur aus Bücherregalen, die bis zur Decke reichten und die mit Büchern vollgestellt
     waren. Es mussten Hunderte, vielleicht sogar Tausende sein und manche der Buchrücken waren mit glänzenden Buchstaben verziert.
    Jonas starrte auf die Bücher. Er konnte sich nicht vorstellen, was in all diesen Büchern stehen konnte. Sollte es etwa noch
     Regeln geben, die über denen standen, die das Leben und die Organisation der Gemeinschaft regelten? Konnte es noch mehr Beschreibungen
     von Fabriken, Ämtern und Komitees geben?
    Er hatte jedoch nur eine Sekunde Zeit, sich umzublicken,denn er bemerkte, dass ein Mann auf einem Stuhl neben dem Tisch saß und ihn beobachtete. Hastig machte er einen Schritt vorwärts,
     stand vor dem Mann, verbeugte sich und sagte: »Ich bin Jonas.«
    »Ich weiß. Willkommen, Hüter der Erinnerungen.«
    Jonas erkannte den Mann. Es war jener Älteste, der sich bei der Zeremonie von den anderen abgehoben hatte, obwohl er dieselbe
     besondere Kleidung trug, die nur den Ältesten zustand.
    Unsicher blickte Jonas in ein Paar helle Augen, die seine eigenen widerspiegelten.
    »Sir, ich entschuldige mich für meine langsame Auffassungsgabe   …«
    Er wartete, doch der Mann sprach nicht die Standardfloskel, mit der man auf die Entschuldigung eines anderen reagierte.
    Nach einer Weile sprach Jonas weiter. »Aber ich dachte – ich meine, ich
denke
«, korrigierte er sich, denn wenn die sprachliche Präzision grundsätzlich schon so wichtig war, dann war sie es bestimmt noch
     mehr
jetzt
, in diesem

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