Hueter der Erinnerung
Augenblick, in der Gegenwart dieses Mannes, »dass
Ihr
der Hüter der Erinnerungen seid. Ich bin nur … nun, ich bin nur zu Eurem Nachfolger bestimmt worden, ich meine, ich wurde auserwählt, erst gestern. Ich bin noch gar nichts.
Noch nicht.«
Der Mann blickte ihn nachdenklich und schweigend an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Interesse,Neugier, Besorgnis und vielleicht auch etwas Sympathie.
Endlich antwortete er. »Ab heute, ab diesem Moment, bist du der neue Hüter der Erinnerungen, zumindest für mich. Ich bin lange
genug der Hüter der Erinnerungen gewesen. Eine sehr, sehr lange Zeit. Das siehst du doch ein, nicht wahr?«
Jonas nickte. Das Gesicht des Mannes war sehr faltig und seine Augen wirkten müde, obwohl sie wegen ihrer ungewöhnlichen hellen
Farbe sehr intensiv blickten. Dunkle Schatten lagen um diese Augen.
»Ich sehe, dass Ihr sehr alt seid«, antwortete Jonas mit großem Respekt. Den Alten wurde immer großer Respekt gezollt.
Der Mann lächelte. Amüsiert berührte er seine faltige Gesichtshaut. »Ich bin nicht ganz so alt, wie ich aussehe«, erklärte
er Jonas. »Mein Beruf hat mich vorzeitig altern lassen. Ich weiß, dass ich so aussehe, als müsste ich längst auf der Liste
der Alten stehen, die demnächst ihren Abschied nehmen. Aber in Wirklichkeit habe ich noch etwas Zeit.«
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort. »Ich habe mich jedoch gefreut, als sie dich auserwählt haben. Sie haben sich damit
lange Zeit gelassen. Die Fehlentscheidung bei der vorigen Auswahl liegt schon zehn Jahre zurück und meine Kräfte erlahmen
allmählich. Alle Kraft, die ich noch habe, brauche ich für deine Ausbildung. Wir haben eine harte, anstrengendeArbeit vor uns, wir beide, du und ich. Bitte setz dich«, sagte er dann und wies auf den Stuhl neben sich. Vorsichtig nahm
Jonas auf dem weichen, gepolsterten Stuhl Platz.
Ehe er weitersprach, schloss der Mann die Augen. »Als ich ein Zwölfer wurde, wurde ich auserwählt, genau wie du. Damals hatte
ich Angst, genau wie du heute, habe ich recht?« Er öffnete seine Augen für einen Moment und blickte fragend auf Jonas, der
nickte.
Er schloss seine Augen wieder. »Ich kam in genau denselben Raum wie du, um meine Ausbildung anzufangen. Das war vor langer,
langer Zeit.«
Plötzlich beugte er sich nach vorne, öffnete die Augen wieder und sagte: »Du kannst mir Fragen stellen. Ich habe so wenig
Erfahrung darin, Dinge zu beschreiben. Es ist verboten, darüber zu sprechen.«
»Ich weiß, Sir. Ich habe die Anweisungen gelesen«, sagte Jonas.
»Deshalb drücke ich mich vielleicht nicht immer so klar aus, wie es nötig wäre«, erklärte der Mann und lachte in sich hinein.
»Meine Arbeit ist wichtig und mit großer Ehre verbunden. Aber das bedeutet nicht, dass ich perfekt bin, und beim ersten Versuch,
meinen Nachfolger auszubilden, habe ich versagt. Bitte frag mich, wann immer du es für nötig hältst.«
In Jonas’ Kopf schwirrten Unmengen von Fragen herum. Tausende, vielleicht sogar Millionen. Mindestensso viele Fragen, wie Bücher dort an den Wänden standen. Aber er stellte keine, nicht sofort.
Der Mann seufzte und versuchte offenbar, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Nach einer Weile sprach er weiter. »In einfachen
Worten gesagt«, sagte er, »obwohl es in Wirklichkeit nicht ganz so einfach sein wird, besteht meine Aufgabe darin, dir alle
Erinnerungen zu übermitteln, die ich in mir trage. Erinnerungen an unsere Vergangenheit.«
»Sir«, sagte Jonas zaghaft, »ich fände es sehr interessant, die Geschichte Eures Lebens zu hören und alle Erinnerungen mit
Euch zu teilen.« Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Ich entschuldige mich dafür, Euch unterbrochen zu haben«, erklärte er verlegen.
Ungeduldig winkte der Mann ab. »Keine Entschuldigungen in diesem Raum. Dafür haben wir keine Zeit.«
»Gut«, fuhr Jonas fort, wobei ihm gleichzeitig bewusst wurde, dass er den alten Mann schon wieder unterbrach, »aber es interessiert
mich wirklich. Ich will damit nicht sagen, dass es mich nicht interessiert, aber ich verstehe nicht, warum das so wichtig
ist. Ich meine, ich könnte ja durchaus einen normalen Beruf in der Gemeinschaft ausüben und in meiner Freizeit hierherkommen
und Ihr erzählt mir dann die Geschichte Eurer Kindheit. Das würde mir gefallen, wirklich.« Er überlegte kurz, ehe er weitersprach.
»Das habe ich auch schon gemacht, im Altenzentrum. Die alten Menschen erzählen gern vonihrer Kindheit,
Weitere Kostenlose Bücher