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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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ihrer Jugend und es hat mir immer Spaß gemacht, ihnen zuzuhören.«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, sagte er abwehrend. »Ich habe mich wohl nicht klar ausgedrückt. Es sind nicht
     meine persönlichen Erinnerungen, nicht meine Kindheitserlebnisse, die ich dir vermitteln muss.«
    Er lehnte sich zurück und legte seinen Kopf gegen die gepolsterte Rückenlehne. »Es sind die Erinnerungen der ganzen Welt«,
     erklärte er seufzend. »Vor deiner Zeit, vor meiner Zeit, vor der des vorigen Hüters und Generationen vor ihm.«
    Jonas runzelte die Stirn. »Der ganzen Welt?«, fragte er. »Ich verstehe nicht. Ihr meint, nicht nur von uns, von unserer Gemeinschaft?
     Sprecht Ihr auch von
Anderswo

    Er versuchte, sich das Ausmaß vorzustellen. »Es tut mir leid, Sir. Aber ich verstehe nicht. Vielleicht bin ich nicht intelligent
     genug. Ich weiß nicht, was Ihr meint, wenn Ihr sagt ›die ganze Welt‹ oder ›Ge nerationen vor ihm‹. Ich dachte, es gäbe nur uns. Nur uns und ein paar umliegende Gemeinschaften.«
    »Es gibt viel mehr. Es gibt so vieles, was darüber hinausgeht, auch
Anderswo
, und all das, was davor passierte, vor langer, langer Zeit. Ich habe all diese Erinnerungen in mir aufgenommen, damals, als
     ich auserwählt wurde. Und hier in diesem Raum, ganz allein, habe ich sie immer wieder durchlebt. Nur sokann man Weisheit erlangen. Und das wird jetzt in Zukunft von dir erwartet.«
    Er verstummte für einen Moment und holte tief Luft. »Auf mir lastet ein riesiges Gewicht«, sagte er.
    Jonas verspürte plötzlich großes Mitgefühl mit dem Mann.
    »Es ist, als ob   …« Wieder machte der Alte eine Pause, um die richtigen Worte zu finden. »Es ist, als führe man einen Berg hinunter, durch
     tiefen Schnee, auf einem Schlitten«, sagte er schließlich. »Zuerst ist es anregend: die hohe Geschwindigkeit, die beißende,
     kalte Luft. Doch dann wird der Schnee tiefer, lastet auf den Kufen und man wird langsamer, immer langsamer. Man muss schieben,
     um weiterzukommen und   …« Plötzlich schüttelte er den Kopf und sah Jonas durchdringend an. »Mein Vergleich sagt dir wohl nicht viel, nicht wahr?«,
     fragte er.
    Jonas war verwirrt. »Ich habe nichts verstanden, Sir.«
    »Natürlich hast du das nicht. Du weißt gar nicht, was Schnee ist, oder?«
    Jonas schüttelte den Kopf.
    »Oder ein Schlitten? Kufen?«
    »Nein, Sir«, sagte Jonas kleinlaut.
    »Den Berg hinunter? Das sagt dir auch nichts?«
    »Nichts, Sir.«
    »Nun, das wäre ja schon einmal ein Anknüpfungspunkt. Ich habe mich schon gefragt, womit ich anfangen könnte. Geh hinüber zum
     Bett und lege dichhin, Gesicht nach unten. Aber zieh zuerst deine Tunika aus.«
    Etwas beklommen tat Jonas, wie ihn geheißen. Unter seiner nackten Brust spürte er die weichen Falten der wunderschönen Decke,
     die über dem Bett lag. Er sah, wie der Alte sich erhob und zuerst zur Sprechanlage an der Wand ging. Es war dieselbe Sprech-
     und Abhöranlage, die sich in jedem Haus befand, aber etwas an ihr war anders. Sie hatte einen Schalter, den der Mann mit einer
     raschen Handbewegung auf
Aus
stellte.
    Verblüfft schnappte Jonas nach Luft. Die Macht zu haben, die Abhöranlage
auszuschalten
! Das war mehr als unglaublich!
    Danach bewegte sich der Alte mit einer erstaunlichen Behändigkeit zur Ecke hinüber, in der das Bett stand. Er setzte sich
     auf einen Stuhl neben Jonas, der bewegungslos dalag und der Dinge harrte, die da kommen sollten.
    »Schließ die Augen. Entspanne dich. Keine Angst, das hier wird nicht schmerzhaft sein.«
    Jonas fiel ein, dass es ihm erlaubt war, ja, dass er sogar dazu aufgefordert worden war, Fragen zu stellen. »Was werdet Ihr
     tun, Sir?«, fragte er und hoffte, seine Stimme würde nicht verraten, wie nervös er war.
    »Ich übermittle dir eine Erinnerung an Schnee«, sagte der Alte und legte seine Hände auf Jonas’ nackten Rücken.

11
    Anfangs spürte Jonas gar nichts. Er spürte nur die leichte Berührung der Hände des alten Mannes auf seinem Rücken.
    Er versuchte, sich zu entspannen, ruhig zu atmen. Im Raum herrschte absolute Stille und für einen Augenblick befürchtete Jonas,
     er würde sich jetzt gleich, am ersten Tag seiner Ausbildung, bis auf die Knochen blamieren und einfach einschlafen.
    Dann fröstelte ihn. Die Hände auf seinem Rücken fühlten sich mit einem Mal kalt an. Als er einatmete, stellte er fest, dass
     sich auch die Luft verändert hatte, denn sein Atem war ebenfalls kalt. Er fuhr sich mit der Zunge

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