Hueter der Erinnerung
über die Lippen und auch
seine Zunge stieß nur auf erschreckend kalte Luft.
Eine seltsame Erfahrung, aber Jonas hatte jetzt keine Angst mehr. Er war voller Tatendrang, holte noch mal tief Luft und spürte,
wie die kalte Luft in seine Lungen drang. Jetzt war sein ganzer Körper von dieser merkwürdig kalten Luft umgeben. Sie blies
an seine Hände, die neben seinem Körper lagen, und über seinen Rücken.
Die Berührung der fremden Hände auf seinem Rücken spürte er nicht mehr.
Plötzlich spürte er ein ganz neues Gefühl: Nadelstiche? Nein, denn sie waren sachte und verursachten keine Schmerzen. Ein
zartes, kaltes, federleichtesPrickeln breitete sich über seinen ganzen Körper und sein Gesicht aus. Er streckte noch mal die Zunge heraus und fing damit
eines der kalten Pünktchen auf. Fast unmittelbar darauf verschwand es, aber dafür kam ein anderes und noch ein anderes. Diese
Erfahrung ließ ihn lächeln.
Ein Teil seines Bewusstseins wusste, dass er noch immer hier auf dem Bett im Nebengebäude lag. Doch ein anderer, abgespaltener
Teil seines Bewusstseins saß aufrecht und spürte unter sich etwas, das mit Sicherheit nicht die warme, bestickte Bettdecke
war, sondern eher eine glatte, harte Oberfläche. Seine Hände umklammerten jetzt (obwohl sie noch immer reglos seitlich von
seinem Körper lagen) ein raues, feuchtes Seil.
Und er konnte
sehen
, obwohl seine Augen geschlossen waren. Er sah einen hellen, wirbelnden Schwall von Kristallen in der Luft, die ihn umgab,
und er konnte sehen, wie sie sich wie ein kühles Fell auf seinem Handrücken sammelten.
Er konnte seinen Atem sehen!
Er begriff, dass die wirbelnden Kristalle, die ihn umgaben, das waren, wovon der alte Mann gesprochen hatte – Schnee –, und er konnte über eine große Entfernung nach vorne und nach unten blicken. Er war irgendwo hoch oben. Der Boden war dick
mit dem pelzigen Schnee bedeckt und er saß etwas oberhalb auf einem harten, flachen Gegenstand.
Schlitten
kam ihm plötzlich in den Sinn. Er saß auf einem Gegenstand, der
Schlitten
hieß. Und dieser Schlitten schien auf einem langen, ausgedehnten
Erdwall
zu schweben, der sich aus der Erdoberfläche heraushob. Im selben Moment, als er das Wort
Erdwall
dachte, sagte ihm sein neues Bewusstsein, dass es sich um einen
Berg
handelte.
Dann begann der Schlitten, auf dem er saß, sich in dem Schneefall zu bewegen, und Jonas begriff, dass er
den Berg hinunterfuhr
. Keine Stimme gab ihm irgendeine Erklärung mit. Die Erfahrung sprach für sich.
Sein Gesicht durchschnitt die kühle Luft, als die Abfahrt durch diese Substanz begann, die Schnee hieß, auf einem Gefährt,
das Schlitten hieß und das sich auf etwas vorwärts bewegte, das sich – wie er sofort und ohne den geringsten Zweifel wusste
–
Kufen
nannte.
Mit einem Mal verstand er all diese Dinge, als er bergab raste, und er genoss die übermütige Ausgelassenheit, die ihn plötzlich
gepackt hatte: die Geschwindigkeit, die kalte, kühle Luft, die völlige Stille, das Gefühl von Gleichgewicht, Aufregung und
Frieden.
Dann, als sich der Neigungswinkel verringerte, als der Erdwall – der
Berg
– flacher wurde, verlangsamte der Schlitten seine Fahrt. Um seine Kufen lag nun viel Schnee und Jonas musste mit seinem ganzen
Körper Schwung holen, um ihn weiter voranzutreiben.Er wollte nicht, dass diese aufregende Fahrt schon zu Ende war.
Die Behinderung durch die Schneemassen am Boden war jedoch irgendwann zu groß für die schmalen Kufen des Schlittens und er
kam langsam zum Stehen. Für einen Moment saß Jonas da, nach Luft ringend, das Seil noch immer mit kalten Händen umklammernd.
Vorsichtig öffnete er die Augen – nicht seine Schnee-Berg-Schlitten-Augen, denn die waren während der ganzen ungewöhnlichen
Abfahrt geöffnet gewesen. Er öffnete seine normalen Augen und sah, dass er noch immer auf dem Bett lag und sich kein bisschen
bewegt hatte.
Der alte Mann neben dem Bett blickte ihn prüfend an. »Wie fühlst du dich?«, fragte er.
Jonas setzte sich auf und bemühte sich um eine ehrliche Antwort. »Komisch«, sagte er nach einer Weile.
Der alte Mann fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Du meine Güte«, sagte er, »war das anstrengend! Aber weißt du, obwohl
ich dir ein winziges Fragment übertragen habe, fühle ich mich jetzt schon ein bisschen leichter.«
»Ihr meint … Ihr habt doch gesagt, dass ich Fragen stellen darf?«
Der Mann nickte ermutigend.
»Wollt Ihr damit
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