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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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sagen, dass Ihr jetzt die Erinnerung an diese   … Schlittenfahrt nicht mehr besitzt?«
    »Richtig. Eine kleine Last weniger in diesem alten Körper.«
    »Aber es war so lustig! Und jetzt habt Ihr diese Erinnerung nicht mehr! Ich habe sie Euch weggenommen!«
    Aber der alte Mann lachte auf. »Ich gab dir nur
eine
Abfahrt, auf
einem
Schlitten, in
einem
Schnee, von
einem
Berg. Ich trage eine Unmenge solcher Erinnerungen mit mir herum. Ich könnte dir sie alle nacheinander übertragen, Tausende
     von Malen, und ich hätte immer noch welche übrig.«
    »Bedeutet das, dass ich   … ich meine, dass wir es wiederholen könnten?«, fragte Jonas eifrig. »Das würde mir gefallen. Ich glaube, ich könnte dann
     lenken, indem ich an dem Seil ziehe. Dieses Mal habe ich mich noch nicht getraut, weil alles so neu für mich war.«
    Der alte Mann schüttelte lachend den Kopf. »Viel leicht ein andermal, zur Belohnung. Aber wir haben wirklich keine Zeit, nur herumzuspielen. Ich wollte dir nur einmal zeigen, wie
     das Ganze funktioniert. Und jetzt«, fuhr er plötzlich geschäftsmäßig fort, »leg dich wieder hin. Ich möchte dir   …«
    Jonas gehorchte. Er war gespannt, welche Erfahrung er als Nächstes machen würde. Aber ihm lagen plötzlich auch so viele Fragen
     auf der Zunge.
    »Warum gibt es bei uns keinen Schnee, keine Schlitten, keine Berge?«, fragte er. »Und wann in der Vergangenheit gab es sie?
     Gab es Schlitten, alsmeine Eltern noch klein waren? Oder als Ihr klein wart?«
    Der alte Mann zuckte mit den Schultern und lachte gequält auf. »Nein«, erklärte er Jonas. »Diese Erinnerung liegt weit, weit
     zurück. Deshalb war sie auch so anstrengend für mich. Ich musste sie von weit her aus meinem Kopf kramen, viele Generationen
     zurück. Ich bekam sie ebenfalls zu Beginn meiner Ausbildung und der vorige Hüter musste sie ebenfalls von sehr weit herholen.«
    »Aber was ist mit all diesen Dingen passiert? Mit dem Schnee und so?«
    »Klimakontrolle. Als es noch Schnee gab, war die Nahrungsmittelproduktion schwierig, weil nur zu bestimmten Zeiten gesät und
     geerntet werden konnte. Das Wetter war unvorhersehbar und manchmal war sogar der Transport unmöglich. Jahreszeiten waren sehr
     unpraktisch und deshalb wurden sie abgeschafft, als wir zur
Gleichheit
übergingen.«
    »Auch die Berge«, fuhr er fort. »Sie erschwerten den Transport der Güter in Lastwagen und Bussen unnötig. Deshalb   …« Er winkte mit der Hand ab, als könne er die Berge damit zum Verschwinden bringen.
»Gleichheit.«
    Jonas runzelte die Stirn. »Aber ich fände es schön, wenn es diese Dinge noch gäbe. Wenigstens ab und zu.«
    Der alte Mann lächelte. »Ich auch«, sagte er wehmütig.»Aber diese Entscheidung liegt nicht bei uns.«
    »Aber, Sir«, sagte Jonas vorsichtig, »Ihr habt doch große Macht   …«
    Der Alte verbesserte ihn. »Ehre«, sagte er mit fester Stimme. »Ich habe Ehre. Das wirst du auch haben. Aber du wirst feststellen,
     dass es nicht dasselbe ist wie Macht.«
    Dann fuhr er entschlossen fort. »Leg dich jetzt hin. Da wir gerade beim Klima sind, übertrage ich dir jetzt eine andere Erinnerung.
     Ich werde dir nicht sagen, worum es geht, denn ich möchte deine Aufnahmefähigkeit testen. Es müsste dir möglich sein, den
     Namen von allein herauszufinden. Schnee, Schlitten, Berge und Kufen habe ich dir erst übermittelt, nachdem ich davon gesprochen
     hatte.«
    Ohne weitere Anweisungen schloss Jonas die Augen. Wieder spürte er die Hände auf seinem Rücken. Er wartete.
    Dieses Mal kamen sie schneller, die Gefühle. Dieses Mal wurden die Hände nicht kalt, sondern sie fühlten sich im Gegenteil
     auf seinem Rücken sehr warm an. Sein Körper wurde feucht. Die Wärme breitete sich aus, zuerst über seine Schultern, dann über
     seinen Nacken, auf seinen Wangen. Er spürte sie auch an den Stellen, wo er noch bekleidet war: ein angenehmes, ganzheitliches
     Gefühl; und als er sich dieses Mal mit der Zunge über die Lippen fuhr, war die Luft heiß und schwer.
    Er bewegte sich nicht. Es gab keinen Schlitten. Seine Körperhaltung veränderte sich nicht. Er war einfach allein, irgendwo
     im Freien, lag auf dem Boden und die Wärme kam von weit oben. Es war nicht so aufregend wie die Fahrt durch den Schnee, aber
     es war angenehm und beruhigend.
    Plötzlich begriff er das Wort dafür –
Sonnenschein.
Er begriff, dass er vom Himmel kam.
    Plötzlich war es vorbei.
    »Sonnenschein«, sagte er laut und öffnete die Augen.
    »Gut, du

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