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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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Erinnerungen berate. Aber das kommt selten vor. Manchmal wünschte ich, sie würden
     häufiger auf meine Weisheit zurückgreifen – es gibt so vieles, was ich ihnen sagen könnte; Dinge, die sie meiner Meinung nach
     ändern sollten. Aber Änderungen gegenüber sind sie leider grundsätzlich abgeneigt. Das Leben in der Gemeinschaft verläuft
     so ordnungsgemäß, so planmäßig – und so schmerzfrei. Dafür haben sie sich vor langer Zeit entschieden.«
    »Dann möchte ich wissen, warum sie überhaupt einen Hüter brauchen, wenn sie ihn kaum zurate ziehen«, sagte Jonas empört.
    »Sie brauchen mich. Und dich«, sagte der Geber ohne weitere Erklärung. »Das wurde ihnen vor zehn Jahren deutlich bewusst.«
    »Was ist vor zehn Jahren passiert?«, fragte Jonas. »Ah, ich weiß. Ihr habt eine Nachfolgerin ausgebildet,aber der Versuch scheiterte. Warum? Warum hat sie das an etwas erinnert?«
    Der Geber lächelte gequält. »Als meine Nachfolgerin scheiterte, wurden alle Erinnerungen freigesetzt, die sie bislang aufgenommen
     hatte. Sie kamen jedoch nicht zu mir zurück. Sie   …«
    Er verstummte und suchte nach den passenden Worten. »Ich weiß es nicht genau. Sie gingen dorthin zurück, wo die Erinnerungen
     früher ruhten, ehe es spezielle Hüter gab. Irgendwo dort draußen   …« Er machte eine vage Handbewegung. »Und plötzlich hatten alle Bürger Zugang zu ihnen. Offensichtlich war es früher einmal
     so. Jeder hatte Zugang zu den Erinnerungen. Es herrschte ein absolutes Chaos«, sagte er. »Eine Zeit lang litten alle sehr
     stark. Schließlich jedoch klang ihr Leiden allmählich ab, weil die Erinnerungen umgesetzt wurden. Aber mit Sicherheit machte
     ihnen dieser Vorfall klar, wie dringend sie einen Hüter brauchen, der all ihre Pein in sich trägt. Und alles Wissen.«
    »Aber dafür leidet Ihr dann die ganze Zeit«, gab Jonas zu bedenken.
    Der Geber nickte. »Das wirst du auch tun. Es ist mein Leben. Und es wird deines sein.«
    Jonas dachte darüber nach, überlegte, was es für ihn bedeutete. »Zusammen mit Spazierengehen, Essen und   …« Er blickte auf die Bücherregale. »Lesen? Ist das alles?«
    Der Geber schüttelte den Kopf. »Das sind nur Tätigkeiten,Dinge, die ich tue. Mein wirkliches Leben spielt sich hier ab.«
    »In diesem Raum?«
    Wieder verneinte der Geber. Er legte seine Hände zuerst an die Stirn, dann auf die Brust. »Nein, hier, in meinem Inneren.
     Wo die Erinnerungen sind.«
    »Die Lehrer in Naturwissenschaften und Technologie haben uns erklärt, wie das Gehirn funktioniert«, erklärte Jonas mit plötzlichem
     Feuereifer. »Es arbeitet nur mit elektrischen Impulsen. Es ist wie ein Computer. Wenn man einen Teil des Gehirns mit einer
     Elektrode stimuliert, dann   …« Als er den angewiderten Gesichtsausdruck des Gebers sah, verstummte er abrupt.
    »Sie haben keine Ahnung«, sagte der Geber mit Bitterkeit in der Stimme.
    Jonas war entsetzt. Vom ersten Tag an hatten sie hier im Anbau alle Regeln der Höflichkeit missachtet und bislang hatte Jonas
     das als nicht recht angenehm empfunden. Aber diese Aussage war etwas anderes, sie ging weit über die Grenzen der Unhöflichkeit
     hinaus. Das war eine schreckliche Anklage. Was wäre, wenn jemand sie gehört hätte?
    Bei der grässlichen Vorstellung, dass das Komitee der Ältesten, das sich jederzeit in jedes Haus schalten konnte, die Worte
     des Gebers gehört haben könnte, warf er einen ängstlichen Blick auf die Abhöranlage. Aber wie immer während ihrer Sitzungen
     war der Schalter auf
Aus
gestellt.
    »Keine Ahnung?«, flüsterte Jonas nervös. »Aber meine Lehrer   …«
    Der Geber machte eine abfällige Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Oh, eure Lehrer sind bestens
     ausgebildet. Sie kennen ihre wissenschaftlichen Fakten.
Jeder
in der Gemeinschaft ist bestens ausgebildet. Es ist nur so   … ohne die Erinnerungen ist das alles bedeutungslos. Diese Last haben sie mir aufgebürdet. Und dem vorigen Hüter und dem vor
     ihm.«
    »Über viele, viele Generationen hinweg«, ergänzte Jonas den Satz mit der Floskel, die unweigerlich folgen würde.
    Der Geber lächelte, wenn auch etwas schroff. »Richtig. Und du wirst der Nächste sein. Eine große Ehre.«
    »Ja, Sir. Das wurde mir bei der Zeremonie gesagt. Die höchstmögliche Ehre.«
     
    Einige Tage darauf schickte ihn der Geber ohne große Erklärungen wieder weg. Wenn der Geber vornübergebeugt dasaß, seinen
     Körper sachte vor- und zurückschaukelte

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