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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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und sein Gesicht fast weiß war, wusste Jonas inzwischen, dass er wieder weggeschickt
     werden würde.
    »Geh bitte wieder«, pflegte der Geber dann mit verkrampfter Stimme zu sagen. »Ich leide. Komm morgen wieder.« An solchen Nachmittagen
     ging Jonas allein, besorgt und enttäuscht am Fluss spazieren.Außer ein paar Essensverteilern und Landschaftspflegern war niemand dort zu sehen. Die kleineren Kinder waren nach der Schule
     im Kinderzentrum, die älteren hatten ihre Praktikums- oder Ausbildungsstunden.
    Allein, wie er war, testete er dann sein wachsendes Erinnerungsvermögen. Auf der Suche nach einem aufschimmernden Grün, das,
     wie er wusste, im Gebüsch und Strauchwerk verborgen lag, glitt sein Blick über die Landschaft, und wenn er irgendwo einen
     grünlichen Schimmer ausmachen konnte, versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, ihn festzuhalten und zu intensivieren, und
     er versuchte, es so lange zu fixieren, bis sein Kopf schließlich schmerzte, und er ließ zu, dass es verblasste.
    Er starrte auf den glatten, farblosen Himmel, stellte sich vor, er sei blau, und dachte so lange an Sonnenschein, bis es ihm
     tatsächlich für kurze Zeit warm wurde.
    Er stand am Fuß der Brücke, die sich über den Fluss erstreckte. Der Brücke, die die Bürger nur bei offiziellen Anlässen überqueren
     durften. Bei Klassenausflügen, wenn sie die umliegenden Gemeinschaften besucht hatten, hatte auch Jonas sie schon überquert
     und er wusste, dass das Land jenseits der Brücke ganz ähnlich war, flach und ordentlich, mit ausgedehnten Feldern für den
     landwirtschaftlichen Anbau. Die anderen Gemeinschaften, die er bei diesen Besuchen gesehen hatte, waren im Wesentlichensehr ähnlich wie seine eigene. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie etwas andere Häuser und Stundenpläne hatten.
    Er fragte sich, was wohl in noch größerer Entfernung lag, dort, wo er noch niemals gewesen war. Die Erde hörte bestimmt nicht
     hinter den umliegenden Gemeinschaften auf. Ob es
Anderswo
Berge gab? Ob es dort ausgedehnte, windgepeitschte Landschaften gab wie jene, die er in der Erinnerung gesehen hatte – der
     Ort, an dem der Elefant gestorben war?
     
    »Geber«, fragte er eines Nachmittags, nachdem er am Vortag weggeschickt worden war, »weshalb leidet Ihr?«
    Als der Geber schwieg, fuhr Jonas fort: »Die Chefälteste sagte mir bei der Zeremonie, dass das Aufnehmen von Erinnerungen
     große Pein verursacht. Und auch Ihr habt mir gesagt, dass nach dem Scheitern der Ausbildung Eurer Nachfolgerin schmerzhafte
     Erinnerungen über die Gemeinschaft kamen. Doch bis jetzt habe ich noch nicht gelitten, Geber. Nicht wirklich«, sagte Jonas
     mit einem kleinen Lächeln. »Oh, natürlich erinnere ich mich noch an den Sonnenbrand, den Ihr mir am ersten Tag übertragen
     habt. Aber das war nicht sehr schlimm. Was ist es, das Euch so sehr leiden lässt? Wenn Ihr mir etwas von diesen Erinnerungen
     übertragt, müsstet Ihr vielleicht nicht mehr so sehr leiden.«
    Der Geber nickte. »Leg dich hin«, sagte er. »Ichnehme an, es ist an der Zeit. Ich kann dich nicht für immer verschonen. Letzten Endes musst du die ganze Last allein tragen.
     Lass mich überlegen«, fuhr er fort, als Jonas erwartungsvoll und etwas ängstlich auf dem Bett lag.
    »Gut«, sagte der Geber nach einer Weile. »Ich habe mich entschieden. Beginnen wir mit etwas Vertrautem. Gehen wir noch einmal
     auf einen Berg, auf einen Schlitten.«
    Er legte die Hände auf Jonas’ Rücken.

14
    Diese Erinnerung begann fast genauso wie letztes Mal, nur dass der Berg dieses Mal anders war, steiler, und dass der Schnee nicht so dicht fiel.
    Es war auch kälter, wie Jonas bald feststellte. Als er wartend oben auf dem Berg saß, sah er, dass der Schnee zu seinen Füßen
     nicht so dick und weich war wie zuvor, sondern hart und sogar mit einer bläulichen Eisschicht überzogen.
    Als sich der Schlitten in Fahrt setzte, grinste Jonas voller Vorfreude über die erwartete atemberaubende Abfahrt durch die
     kühle, erfrischende Luft.
    Doch dieses Mal konnten sich die Kufen nicht in die krustige Eisschicht eingraben wie damals an dem weichen Abhang. Sie rutschten
     zur Seite und der Schlitten gewann beängstigend an Schnelligkeit. Jonas zog an dem Seil, versuchte zu lenken, aber der steile
     Abhang und das Tempo, das er mittlerweile erreicht hatte, ließen ihm keine Kontrollmöglichkeit. Er verspürte nicht mehr das
     unbändige Gefühl der Freiheit wie letztes Mal, sondern eine wachsende

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