Hueter der Erinnerung
übertragen hatte, in der Jonas ein
verwahrlostes, hungriges Kind gewesen war. Vor Hunger hatte sich sein leerer, knurrender Magen krampfartig zusammengezogen.
Erschöpft lag er danach auf dem Bett. »Warum müssen Ihr und ich diese schrecklichen Erinnerungen aufbewahren?«
»Es macht uns weise«, entgegnete der Geber. »Ohne Weisheit könnte ich meiner Aufgabe, das Komitee der Ältesten auf Wunsch
zu beraten, nicht gerecht werden.«
»Welche Weisheit kann schon aus diesem schrecklichen Hungergefühl kommen?«, stöhnte Jonas. Sein Magen schmerzte noch immer,
obwohl die Erinnerung inzwischen hinter ihm lag.
»Vor einigen Jahren«, erklärte der Geber, »vor deiner Geburt, hatten mehrere Bürger beim Komitee den Antrag gestellt, die
Geburtenrate zu erhöhen. Sie wollten, dass jede Gebärerin vier statt bisher drei Kinder gebar, um auf diese Weise die Bevölkerungszahl
zu erhöhen und mehr verfügbare Arbeitskräfte zu haben.«
Jonas lauschte gespannt. »Hört sich logisch an.«
»Einige Familien hätten dann einfach noch ein zu sätzliches Kind aufnehmen sollen.«
Jonas nickte. »Meine Familie könnte das tun«,sagte er. »Wir haben dieses Jahr Gabriel bei uns und das ist sehr lustig.«
»Das Komitee der Ältesten fragte mich um meinen Rat«, sagte der Geber. »Sie hielten diese Idee auch für sehr logisch, aber
da sie in diesem Punkt keine Erfahrung hatten, baten sie mich um Rat.«
»Und dabei kamen Euch Eure Erinnerungen zu Hilfe?«
Der Geber bejahte. »Doch die intensivste Erinnerung war die des Hungers. Sie liegt viele, viele Generationen zurück, Jahrhunderte.
Die Bevölkerung war so sehr angewachsen, dass überall Hungersnot herrschte. Daraufhin kam es zu Krieg.«
Krieg? Dieses Wort hatte Jonas noch nie gehört. Aber der Hunger war ihm mittlerweile vertraut. Unbewusst rieb er sich über
den Magen, weil er dieses unbefriedigte Bedürfnis verspürte.
»Also habt Ihr ihnen beschrieben, wie es ist, wenn man Hunger hat?«
»Nein, von Schmerzen wollen sie nichts hören. Sie wollen nur meinen Rat hören. Ich riet ihnen davon ab, die Geburtenrate zu
erhöhen.«
»Aber Ihr sagtet, das war vor meiner Geburt. Sie fragen Euch doch sehr selten um Rat. Nur wenn sie – wie habt Ihr es ausgedrückt?
Nur wenn sie in einem Punkt keine Erfahrung haben. Wann war es das letzte Mal?«
»Erinnerst du dich an den Tag, als das Flugzeug über die Gemeinschaft flog?«
»Ja. Ich habe große Angst gehabt.«
»Sie auch. Sie ließen alles für den Abschuss vorbereiten. Aber gleichzeitig fragten sie mich um Rat. Ich riet ihnen zu warten.«
»Aber wie konntet Ihr das wissen? Wie konntet Ihr wissen, dass sich der Pilot nur verflogen hatte?«
»Ich wusste es nicht. Ich nutzte das Wissen aus den Erinnerungen. Ich wusste, dass es in der Vergangenheit Zeiten gegeben
hatte – schreckliche Zeiten –, in denen die Leute einander voreilig vernichteten, weil Angst im Spiel war, und das führte im Endeffekt ihr eigenes Verderben
herbei.«
Jonas horchte auf. »Das bedeutet«, sagte er langsam, »dass Ihr auch Erinnerungen an Zerstörung und Tod habt. Und auch diese
müsst Ihr mir übergeben, weil auch ich Wissen und Weisheit erwerben muss.«
Der Geber nickte.
»Aber es wird sehr schmerzlich sein«, sagte Jonas. Es war keine Frage.
»Es wird äußerst schmerzlich sein«, bestätigte der Geber.
»Aber warum kann nicht
jeder
diese Erinnerung haben? Ich glaube, es wäre einfacher, wenn alle diese Erinnerungen teilten. Dann müsstet Ihr und ich nicht
so vieles tragen, wenn jeder seinen Teil beiträgt.«
Der Geber seufzte. »Du hast recht«, sagte er. »Aber dann wären alle davon belastet und schmerzgeplagt. Das wollen sie nicht.
Und das ist der wahreGrund, warum der Hüter für sie so wichtig ist und so große Ehre genießt. Sie wählten mich – und jetzt dich – aus, um ihnen
diese schwere Last abzunehmen.«
»Wann haben sie das beschlossen?«, fragte Jonas empört. »Das war unfair. Ich finde, das sollten wir ändern!«
»Und wie stellst du dir das vor? Mir selbst ist nie eine Möglichkeit eingefallen und dabei bin ich derjenige, der am meisten
Wissen und Weisheit hat.«
»Aber jetzt sind wir zu zweit«, sagte Jonas mit wachsendem Eifer. »Gemeinsam fällt uns bestimmt etwas ein!«
Der Geber betrachtete ihn skeptisch.
»Warum stellen wir nicht einfach den Antrag, die Regeln zu ändern?«, schlug Jonas vor.
Der Geber lachte und auch Jonas konnte sich ein skeptisches Grinsen nicht
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