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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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stöhnte die Stimme mit einem ausgedörrten, krächzenden Flüstern.
    Jonas wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und blickte in ein Paar halb geschlossene Augen. Sie
     gehörten einem Jungen, der nicht viel älter zu sein schien als er selbst. Breite Schmutzspuren zogen sich über sein Gesicht
     und sein verfilztes blondes Haar. Er lag ausgestreckt am Boden und auf seiner grauen Uniform glänzte feuchtes, frisches Blut.
    Die Farben des schrecklichen Blutbades waren ganz intensiv: Die Nässe auf dem rauen und staubigen Stoff der Uniform war leuchtend
     rot. Die ausgerissenen Grashalme im blonden Haar des Jungen waren von einem grellen Grün.
    Der Junge starrte mühsam zu ihm hoch. »Was ser «, bettelte er erneut. Als er sprach, ergoss sich ein Schwall Blut aus seiner rauen Kehle und durchtränkte den rauen Stoff
     seiner Jacke in Brusthöhe und an einem Ärmel.
    Jonas spürte, dass er einen Arm vor Schmerzennicht bewegen konnte, und durch seinen zerfetzten Ärmel sah er etwas, das wie aufgerissenes Fleisch und ein zersplitterter
     Knochen aussah. Er versuchte, seinen anderen Arm zu bewegen, und das gelang ihm. Langsam tastete er an seine Seite, spürte
     dort einen Metallbehälter und nahm den Verschluss ab, wobei er ab und zu in der Bewegung innehalten musste, weil die Schmerzen
     in seiner Hand unerträglich wurden. Schließlich war die Metallflasche offen. Langsam streckte er seinen Arm über die blutgetränkte
     Erde, Zentimeter um Zentimeter, und hielt die Flasche an die Lippen des fremden Jungen. Das Wasser tröpfelte in den flehend
     aufgesperrten Mund und über das schmutzige Kinn.
    Der Junge stöhnte. Sein Kopf fiel nach hinten und sein Unterkiefer sackte herab, als wäre er von etwas überrascht worden.
     In seine Augen kroch eine stumpfe Leere. Er verstummte.
    Doch der Lärm, der Jonas umgab, dröhnte unverändert weiter: Schreie verwundeter Männer, Schreie, die nach Wasser oder nach
     der Mutter oder um den Tod flehten. Auf dem Boden liegende Pferde stießen hohe spitze Töne aus, hoben mühsam ihre Köpfe und
     stießen unkontrolliert ihre Hufe in die Luft.
    Jonas hörte das nicht enden wollende Donnern von Kanonen in der Ferne. Von Schmerzen überwältigt und unfähig, auch nur einen
     Finger zu rühren, lag er stundenlang in dem widerlichen Gestank, sahund hörte Männer und Tiere sterben und begriff, was Krieg bedeutete.
    Schließlich war er an einem Punkt angelangt, an dem er das alles keine Sekunde länger ertragen konnte und sich nur noch den
     Tod herbeisehnte. Er öffnete die Augen und lag wieder auf dem Bett.
    Als könne er es nicht ertragen, mit ansehen zu müssen, was er Jonas angetan hatte, wich der Geber Jonas’ entsetztem Blick
     aus.
    »Verzeih mir«, sagte er.

16
    Am liebsten wäre Jonas nie mehr in die ses Zimmer zurückgekehrt. Er wollte keine Erinnerungen mehr, er wollte keine Ehre, keine Weisheit, er wollte nicht mehr leiden.
     Er wollte seine Kindheit wiederhaben, mit den aufgeschürften Knien und den übermütigen Ballspielen. Er saß allein zu Hause
     und starrte zum Fenster hinaus. Er sah spielende Kinder und Bürger, die nach einem weiteren Arbeitstag ohne Zwischenfälle
     zufrieden nach Hause radelten. Sie alle führten ein gewöhnliches Leben ohne unliebsame Vorkommnisse, ohne Ängste, weil er
     – und vor ihm andere – auserwählt worden war, um ihre Last zu tragen.
    Doch die Entscheidung lag nicht bei ihm. Pflichtbewusst und gehorsam ging er jeden Tag in den Anbau.
    Nach dem schrecklichen Kriegserlebnis war der Geber viele Tage lang sehr fürsorglich und rücksichtsvoll.
    »Es gibt auch sehr viele angenehme Erinnerungen«, gab er zu bedenken. Und das stimmte. Bisher hatte Jonas auch unzählige glückliche
     Momente erleben dürfen, Dinge, von deren Existenz er niemals etwas geahnt hatte.
    Er war bei einer Geburtstagsfeier gewesen, bei der ein ganz bestimmtes Kind gefeiert wurde, und er verstandjetzt, wie beglückend und schön es war, ein Individuum zu sein, etwas Besonderes, Einzigartiges. Und wie stolz man darauf
     sein konnte.
    Er hatte Museen besichtigt und Gemälde in den allerprächtigsten Farben gesehen, die er jetzt allesamt erkennen und benennen
     konnte.
    Als besonders schön hatte er es empfunden, auf dem Rücken eines braunen Pferdes über eine Wiese zu reiten, die nach taubenetztem
     Gras duftete. An einem kleinen Bach war er abgestiegen und beide, er und das Pferd, hatten von dem kühlen, klaren Wasser getrunken.
     Er wusste

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