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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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durchschlafen.«
     
    Anfangs schlief Gabriel ganz ruhig. Jonas lag im Bett, stützte sich ab und zu auf den Ellbogen und schielte zum Bettchen hinüber.
     Gabriel lag auf demBauch, die Arme entspannt neben den Kopf gelegt, und hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging ruhig und regelmäßig. Nach
     einer Weile schlief Jonas beruhigt ein.
    Dann, mitten in der Nacht, wachte Jonas auf. Gabriel wand sich unter seiner Decke, fuchtelte mit den Armen und wimmerte.
    Jonas stand auf und ging zu seinem Bettchen hinüber. Zärtlich und beruhigend streichelte er den Rücken des Kindes. Manchmal
     reichte das schon, um ihn wieder zum Einschlafen zu bewegen. Doch dieses Mal krümmte sich Gabriel unter seinen Händen nur
     noch heftiger.
    Während er ihn rhythmisch weiterstreichelte, dachte Jonas an das wunderschöne Segelboot aus der Erinnerung, die der Geber
     ihm kürzlich übertragen hatte: das Bild eines Boots, dessen weißes Segel sich im Wind der frischen, lebhaften Brise blähte,
     während es über einen türkisblauen See glitt.
    Jonas war sich nicht bewusst, dass er diese Erinnerung weitergab, aber plötzlich bemerkte er, dass sie in seinem Kopf verblasste,
     dass sie über seine Hände in das Bewusstsein Gabriels überging. Gabriel wurde zunehmend ruhiger. Jonas erschrak.
    Mit großer Willensanstrengung versuchte er das zurückzuhalten, was von der Erinnerung noch übrig war. Er löste seine Hände
     von dem kleinen Rücken und stand ruhig neben dem Bettchen.
    Er versuchte, die Erinnerung an das Segelschiffnoch einmal in sich wachzurufen. Sie war zwar noch da, aber der Himmel war weniger blau, das Boot fuhr langsamer und das Wasser
     des Sees war trüber und unbewegter. Er hielt das Bild eine Weile fest, versuchte seinen Schreck über das, was passiert war,
     zu überwinden, und ging dann wieder zu Bett.
    Noch ein weiteres Mal, gegen Morgengrauen, wachte der Säugling auf und schrie. Wieder ging Jonas zu ihm hinüber. Dieses Mal
     legte er seine Hände mit voller Absicht auf Gabriels Rücken und übertrug ihm den Rest der Erinnerung an den beruhigenden Tag
     am See. Wieder schlief Gabriel ein.
    Doch jetzt lag Jonas wach und überlegte angestrengt. Ihm selbst war nur noch ein Schimmer der Erinnerung geblieben und er
     spürte eine kleine Lücke dort, wo sie vormals gewesen war. Er konnte den Geber um eine andere Szene mit einem Segelboot bitten,
     das wusste er. Vielleicht von einem Segelschiff im Ozean, denn dieses Meer hatte Jonas durch die Erinnerungen bereits kennengelernt
     und er wusste, was es war. Er wusste, dass es auch dort Segelschiffe gab, in Erinnerungen, die er sich erst noch aneignen
     musste.
    Er fragte sich jedoch, ob er dem Geber beichten sollte, dass er seine Erinnerung weggegeben hatte. Weder war er bisher zum
     Geber noch Gabriel zum Empfänger ernannt worden.
    Dass er diese Macht hatte, erschreckte ihn. Er beschloss, den Vorfall zu verschweigen.

15
    Als Jonas den Anbau betrat, begriff er sofort, dass heute einer der Tage war, an denen er weggeschickt werden würde. Der Geber saß reglos auf seinem Stuhl, das
     Gesicht in den Händen vergraben.
    »Ich komme morgen wieder, Sir«, sagte er rasch. Dann zögerte er. »Es sei denn, ich kann Euch irgendwie helfen.«
    Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte der Geber auf. »Bitte«, keuchte er, »nimm mir einen Teil dieser schrecklichen Last ab!«
    Jonas stützte ihn auf dem Weg zum Stuhl neben dem Bett. Dann zog er sich schnell die Tunika aus und legte sich bäuchlings
     auf die weiche Decke. »Legt Eure Hände auf meinen Rücken«, befahl er, weil er das Gefühl hatte, dass der Geber vor lauter
     Qual kaum noch klar denken konnte.
    Prompt kamen die Hände und mit ihnen und durch sie auch der Schmerz. Jonas wappnete sich mit all seinem Mut, um die Erinnerung
     in sich aufzunehmen, die den Geber so sehr peinigte.
    Er war an einem lauten, stinkenden Ort, an dem ein wüstes Durcheinander herrschte. Es war noch früh am Morgen, aber schon
     hell und die Luft war erfüllt von einem dichten Rauch, der bräunlich gelb über dem Erdboden schwebte. Um ihn herum, überall,bis weit über die ebene Fläche, die wie ein Feld aussah, lagen stöhnende, ächzende Männer. Ein Pferd mit wirrem Blick, dessen
     Zügel halb zerfetzt herabhingen, trabte hektisch zwischen den am Boden liegenden Leibern umher, zuckte mit dem Kopf und wieherte
     in Panik. Irgendwann stolperte es, fiel zu Boden und stand nicht mehr auf.
    Jonas hörte eine schwache Stimme neben sich. »Wasser«,

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