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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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Angst und Ohnmacht, da sein Schlitten unkontrolliert
     nach unten raste.
    Plötzlich rutschte der Schlitten seitlich, wirbelte herum und prallte gegen ein Hindernis. Jonas wurde durch die Luft geschleudert
     und fiel krachend zu Boden. Er hörte das Knacken eines Knochens und erkonnte sein verdrehtes Bein nicht mehr bewegen. Sein Gesicht scheuerte auf der harten Eisfläche entlang, und als er endlich
     zum Halten kam, lag er reglos und schockiert da und spürte zuerst nichts anderes als eine grenzenlose Angst.
    Dann kam die erste Welle des Schmerzes. Er keuchte. Es war, als wäre ihm ein Beil ins Fleisch gedrungen und hätte mit seinem
     scharfen Blatt jede Nervenbahn einzeln durchtrennt. In seiner Panik nahm er das Wort ›Feuer‹ wahr und hatte das Gefühl, als
     würden tausend kleine Flämmchen durch seinen gebrochenen Knochen und sein Fleisch zucken. Er versuchte, sich zu bewegen, aber
     es ging nicht. Die Schmerzen wurden schlimmer.
    Er schrie. Aber es kam keine Antwort.
    Von Schluchzern geschüttelt wandte er den Kopf und erbrach sich in den gefrorenen Schnee. Blut, das offenbar aus seinem Gesicht
     kam, tröpfelte in das Erbrochene.
    »Neiiiiiin!«, schrie er, doch sein Schrei verhallte im Wind, in der leeren Landschaft.
    Dann war er plötzlich wieder im Anbau, krümmte sich auf dem Bett. Sein Gesicht war tränenüberströmt.
    Da er sich endlich wieder bewegen konnte, wiegte er seinen Körper vorsichtig hin und her und holte ein paarmal tief Luft,
     um die Erinnerung an die unerträglichen Schmerzen zu verscheuchen.
    Verwundert saß er da und starrte auf sein Bein,das ungebrochen und völlig heil unter ihm lag. Die brutalen Schmerzen waren zwar etwas abgeklungen, doch sie hallten noch
     in ihm nach und auch sein Gesicht fühlte sich noch wund an.
    »Kann ich ein Schmerzmittel haben, Sir?«, bat er. Schmerzmittel waren normalerweise immer erhältlich, schon bei kleinen Anlässen
     wie Prellungen und Aufschürfungen, bei einem gequetschten Finger, Magenschmerzen oder aufgeschlagenen Knien nach einem Fahrradunfall.
     Dann wurde eine schmerzstillende Salbe aufgetragen oder eine Tablette verabreicht und in schlimmeren Fällen gab es eine Spritze,
     die sofortige Linderung brachte. Doch der Geber verneinte und wich seinem Blick aus.
    An diesem Abend schob Jonas humpelnd sein Rad nach Hause. Wie wenig hatte im Vergleich dazu doch der Sonnenbrand damals geschmerzt,
     und die Schmerzen waren auch sofort wieder vergangen. Die heutigen Schmerzen jedoch wollten einfach nicht abklingen. Sie waren
     längst nicht mehr so unerträglich wie direkt nach dem Unfall auf dem Berg. Jonas versuchte, tapfer zu sein. Schließlich hatte
     die Chefälteste bei der Zeremonie gesagt, er sei tapfer.
    »Was ist los, Jonas?«, fragte sein Vater beim Abendessen. »Du bist heute so ruhig. Fühlst du dich nicht wohl? Möchtest du
     ein Schmerzmittel?«
    Doch Jonas kannte seine Vorschriften: Im Zusammenhang mit seiner Ausbildung durfte er keine Schmerzmittel einnehmen.
    Und er durfte auch nicht über seine Ausbildung sprechen. Beim allabendlichen Gefühlsaustausch sagte er einfach, er sei müde,
     weil seine Unterrichtsstunden heute ungewöhnlich anstrengend gewesen seien.
    Er zog sich früh in sein Zimmer zurück und durch die geschlossene Tür konnte er seine Eltern und seine Schwester hören, die
     fröhlich lachten, während sie Gabriel badeten.
    Sie wissen gar nicht, was Schmerzen sind
, dachte er. Diese Erkenntnis gab ihm das Gefühl, schrecklich einsam zu sein, und er rieb sich über sein noch immer pochendes
     Bein. Schließlich schlief er ein. In dieser Nacht durchlebte er im Traum immer wieder das schreckliche Gefühl der Angst und
     Verlassenheit auf dem einsamen Berg.
     
    Die täglichen Ausbildungsstunden gingen weiter und nunmehr beinhalteten sie auch schmerzhafte Szenen. Die Schmerzen des gebrochenen
     Beins kamen Jonas inzwischen geradezu geringfügig vor, nachdem der Geber ihn nach und nach mit weit schlimmeren und schrecklicheren
     Schmerzen der Vergangenheit konfrontierte. Doch jedes Mal beendete er einen solchen Nachmittag mit einer schönen, farbenprächtigen
     Erinnerung: einem Segelboot auf einem blaugrünen See, einer mit gelben Wildblumen übersäten Wiese, einem orangefarbenen Sonnenuntergang
     hinter den Bergen.
    Doch selbst das konnte die Pein nicht mildern, die Jonas nun immer schonungsloser kennenlernte.
    »Warum?«
, fragte Jonas den Geber eines Tages, nachdem er ihm eine besonders grausame Erinnerung

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