Hueter der Erinnerung
verkneifen.
»Die Entscheidung wurde lange vor unserer Zeit getroffen«, sagte der Geber. »Und lange vor der Zeit des vorherigen Hüters
und …« Er wartete.
»Und viele, viele Generationen zuvor«, zitierte Jonas den vertrauten Satz. Manchmal kam ihm dieser Satz witzig vor. Andere
Male bedeutungsvoll und wichtig.
Heute jedoch war er bedrohlich. Jonas wusste, dass er besagte, dass nichts geändert werden konnte.
Der Säugling Gabriel wuchs heran und bestand erfolgreich die Reifetests, die die Säuglingspfleger allmonatlich abhielten.
Er konnte jetzt allein sitzen, nach kleinen Gegenständen greifen und hatte mittlerweile sechs Zähne. Tagsüber, im Säuglingszentrum,
war er fröhlich, wie Vater zu berichten wusste, und zeigte auch eine völlig angemessene Intelligenz.
Nachts jedoch war er meist unruhig und quengelig und bedurfte besonderer Aufmerksamkeit.
»Nachdem ich ihm nun so viel Extrazeit gewidmet habe«, sagte Vater eines Abends, als Gabriel frisch gebadet in dem Kinderbettchen
lag, das inzwischen das Körbchen ersetzt hatte, und sein Nilpferd knuddelte, »kann ich nur hoffen, dass sie nicht doch noch
beschließen, dass er freigegeben wird!«
»Aber vielleicht wäre es für ihn doch das Beste«, sagte Mutter. »Ich weiß, dass es dir nichts ausmacht, seinetwegen nachts
aufzustehen. Aber mir macht der Schlafmangel schon sehr zu schaffen.«
»Wenn Gabriel freigegeben wird, könnten wir vielleicht ein neues Pflegekind aufnehmen, was meint ihr?«, schlug Lily vor. Sie
kniete neben dem Bettchen und schnitt Grimassen, was Gabriel mit einem begeisterten Quietschen belohnte.
Jonas’ Mutter war von diesem Vorschlag nicht sehr begeistert. Sie verdrehte die Augen.
»Nein«, sagte Vater lächelnd. Er fuhr Lily durch das Haar. »Es kommt sowieso nur selten vor, dass ein Säugling als ›unsicher‹
eingestuft wird wie Gabriel.In den nächsten Jahren vermutlich nicht mehr. Aber trotzdem«, sagte er seufzend, »sie werden ihre Entscheidung erst in einigen
Monaten treffen. Im Moment bereiten wir alles für einen Abschied vor, der höchstwahrscheinlich sehr bald stattfinden wird.
Es gibt da eine Gebärerin, die nächsten Monat männliche Zwillinge zur Welt bringen wird.«
»Du meine Güte«, sagte Mutter kopfschüttelnd. »Wenn sie eineiig sind, hoffe ich, du wirst nicht derjenige sein, der …«
»Doch. Ich stehe als Nächster auf der Liste. Ich werde entscheiden müssen, welcher von ihnen aufgezogen und welcher freigegeben
wird. Aber normalerweise ist das kein Problem. Man orientiert sich am Geburtsgewicht. Der Kleinere der beiden wird freigegeben.«
Jonas dachte plötzlich an die Brücke und daran, wie er sich an der Brücke überlegt hatte, wo
Anderswo
lag. Würde jemand wartend am Eingang stehen, um den winzigen Zwilling, der freigegeben wurde, in Empfang zu nehmen? Würde
er dort in
Anderswo
aufwachsen, ohne je zu ahnen, dass in dieser Gemeinschaft ein Mensch lebte, der genau gleich aussah wie er?
Einen winzigen Moment lang flackerte in ihm eine Hoffnung auf, die – wie er wusste – ziemlich albern war. Er hoffte, dass
Larissa dort auf ihn warten würde. Larissa, die alte Frau, die er gebadet hatte. Jonas dachte an ihre leuchtenden, wachen
Augen,ihre sanfte Stimme, ihr tiefes Lachen. Fiona hatte ihm kürzlich gesagt, dass Larissa mit einer wunderschönen Abschiedsfeier
freigegeben worden war.
Aber er wusste, dass die Alten keine Kinder aufziehen durften. Larissas Leben in
Anderswo
würde so ruhig und besinnlich verlaufen, wie es sich für die Alten geziemt. Bestimmt würde sie sich gar nicht darüber freuen,
ein Kleinkind aufziehen zu sollen, das gefüttert und umsorgt werden musste und nachts vermutlich schrie.
»Vater? Mutter?«, sagte er, weil ihm plötzlich eine Idee gekommen war. »Warum stellt ihr Gabriels Bettchen heute Nacht nicht
in mein Zimmer? Ich weiß, wie man ihn füttern und trösten muss, und dann könntet ihr beide heute einmal durchschlafen.«
Der Vater war skeptisch. »Du hast einen sehr tiefen Schlaf, Jonas. Was ist, wenn du nicht wach wirst?«
Lily pflichtete Vater bei. »Wenn niemand nach Gabriel sieht«, gab sie zu bedenken, »brüllt er nur noch lauter. Dann weckt
er das ganze Haus, während Jonas in aller Seelenruhe weiterschläft!«
Vater lachte. »Du hast recht, Lily-Billy. Aber trotzdem, Jonas, wir könnten es zumindest für eine Nacht versuchen. Dann habe
ich heute Nacht frei und Mutter kann endlich wieder einmal
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