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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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nunmehr, was Pferde waren. Und als das Pferd ihn damals nach dem erfrischenden Trunk sanft mit seinem Kopf an die
     Schulter gestupst hatte, begriff Jonas, welch innige Bande zwischen Mensch und Tier bestehen konnten.
    Er war durch Wälder gestreift und hatte nachts an einem Lagerfeuer gesessen. Obwohl er durch die Erinnerung das unsägliche
     Gefühl des Verlassenwerdens und des Verlusts kennengelernt hatte, hatte er andererseits auch erfahren, wie schön die selbst
     gewählte Einsamkeit sein konnte.
    »Welches ist Eure schönste Erinnerung?«, hatte Jonas den Geber eines Tages gefragt. »Ihr braucht sie mir noch nicht gleich
     zu geben«, fügte er rasch hinzu. »Erzählt mir nur, um was es geht, damit ich mich bereits darauf freuen kann, weil Ihr sie
     mir am Ende meiner Ausbildung sowieso geben werdet.«
    Der Geber lächelte. »Leg dich nieder«, sagte er.»Es ist mir eine Freude, dir diese Erinnerung zu übergeben.«
    Gleich zu Anfang der Erinnerung spürte Jonas eine aufgeregte Freude. Manchmal dauerte es eine Weile, bis er sich in einer
     neuen Szene zurechtfand, bis er seinen Platz eingenommen hatte. Dieses Mal jedoch fühlte er sich sofort wohl und genoss das
     Glücksgefühl, das diese neue Erinnerung durchdrang.
    Er war mit mehreren Personen zusammen in einem Raum. Es war warm und gemütlich und im Kamin loderte ein Feuer. Durch ein Fenster
     konnte er sehen, dass es draußen Nacht war und schneite. Als Nächstes sah er farbige Lichter: rote, grüne und gelbe, die an
     einem Baum funkelten, der seltsamerweise mitten im Raum stand. Auf dem Tisch stand ein glänzender Kerzenhalter mit brennenden
     Kerzen, die ein sanftes, flackerndes Licht in den Raum warfen.
    Ein verlockender Bratenduft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und er hörte leises Gelächter. Ein brauner Hund lag
     ausgestreckt auf dem Fußboden und schien zu schlafen.
    Am Fuß des merkwürdigen Baums lagen viele verschieden große Päckchen, in buntes Papier eingewickelt und mit schimmernden Bändern
     verschnürt. Während Jonas reglos zuschaute, begann ein kleines Kind, die Päckchen einzusammeln und sie zu verteilen: an andere
     Kinder, an zwei Erwachsene – vermutlichdie Eltern – und an ein älteres, ruhiges Paar, das lächelnd nebeneinander auf dem Sofa saß.
    Mit großen Augen beobachtete Jonas, wie die Leute an den Bändern zogen, das bunte Papier abwickelten und staunend zum Vorschein
     brachten, was darin eingepackt war. Spielzeug, Kleidungsstücke und Bücher. Sie stießen Freudenschreie aus und umarmten einander.
    Das kleine Kind krabbelte auf den Schoß der älteren Frau und ließ sich von ihr sanft hin- und herschaukeln. Die alte Frau
     rieb ihre Wange an der des Kindes.
    Als Jonas die Augen wieder geöffnet hatte, lag er noch eine geraume Weile reglos und lächelnd da, noch ganz im Bann der wunderschönen,
     heimeligen Szene, die er miterlebt hatte. Sie beinhaltete alles, was er im Laufe seiner Ausbildung schätzen gelernt hatte.
    »Was hast du empfunden?«, fragte der Geber.
    »Wärme«, erwiderte Jonas, »und Glück. Und – lasst mich überlegen –
Familienbande
. Es war eine Art Fest, eine Feier. Und da war noch etwas – irgendwie finde ich nicht das richtige Wort dafür.«
    »Es wird dir einfallen.«
    »Wer waren diese alten Leute? Warum waren sie dort?« Jonas hatte sich gewundert, auch sie in dem Raum zu sehen.
    Die Alten seiner Gemeinschaft verließen das Altenzentrum nie, den Ort, an dem sie versorgt und gut aufgehoben waren.
    »Man nannte sie Großeltern.«
    »Große Eltern?«
    »Großeltern. Es bedeutete ›Eltern der Eltern‹, vor langer Zeit.«
    »Viele, viele Generationen vor unserer Zeit?« Jonas lachte. »Es gäbe also theoretisch Eltern der Eltern der Eltern?«
    Der Geber stimmte in sein Lachen ein. »Stimmt. Es ist so ähnlich, als wenn du in einen Spiegel siehst und dich darin in einen
     Spiegel blicken siehst.«
    Jonas runzelte die Stirn. »Aber natürlich, auch meine Eltern müssen Eltern gehabt haben! Das habe ich mir noch nie überlegt!
     Wer sind die Eltern meiner Eltern? Und
wo
sind sie?«
    »Das könntest du im Saal der offenen Bücher nachlesen. Dort findest du die Namen. Aber überleg doch, mein Sohn! Wenn du später
     einmal einen Antrag auf Kinder stellen solltest, wer werden dann die Eltern ihrer Eltern sein? Wer werden ihre Großeltern
     sein?«
    »Mein Vater und meine Mutter natürlich.«
    »Und wo werden sie dann sein?«
    Jonas überlegte. »Oh«, sagte er langsam. »Wenn meine

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