Hueter der Erinnerung
Ausbildung beendet ist und ich ein vollwertiger Erwachsener bin, wird
mir ein eigenes Haus zugewiesen. Und wenn Lily dann ein paar Jahre später ebenfalls erwachsen ist, bekommt auch sie ihr eigenes
Haus und vielleicht einen Ehepartner und Kinder, wenn sie das beantragt, und Vater und Mutter werden dann …«
»Richtig!«
»Solange sie noch arbeiten und ihren Beitrag zum Funktionieren der Gemeinschaft leisten können, leben sie mit den anderen
Kinderlosen Erwachsenen zusammen. Sie nehmen dann nicht mehr an meinem Leben teil.
Und danach, wenn ihre Zeit gekommen ist, werden sie ins Altenzentrum übersiedeln«, fuhr Jonas fort. Er dachte laut. »Und dort
wird gut für sie gesorgt werden, sie werden respektiert, und wenn sie freigegeben werden, gibt es eine wunderschöne Abschiedsfeier.«
»Der du nicht beiwohnen wirst«, ergänzte der Geber.
»Nein, natürlich nicht, weil ich ja nicht einmal wissen werde, wann sie stattfindet. Aber ich bin dann ja mit meinem eigenen
Leben beschäftigt. Und Lily mit ihrem. Und unsere Kinder, falls wir welche haben werden, werden nie erfahren, wer die Eltern
ihrer Eltern waren. Es klappt doch alles bestens auf diese Art, nicht wahr? So wie alles in unserer Gemeinschaft abläuft«,
sagte Jonas etwas unsicher. »Bis zu der Erinnerung eben habe ich mir einfach noch nie vorgestellt, dass es auch anders sein
könnte.«
»Aber auch das ist möglich«, sagte der Geber.
Jonas zögerte. »Es war eine schöne Erinnerung, wirklich. Ich verstehe, dass es deine liebste ist. Allerdings fällt mir noch
immer nicht das Wort für das Gefühl ein, das über dieser ganzen Szene lag.«
»Liebe?«, schlug der Geber vor.
Jonas wiederholte es.
»Liebe.«
Das war ein ganz neues Wort und eine neue Vorstellung für ihn.
Beide schwiegen für eine Minute. Dann sagte Jonas leise: »Geber?«
»Ja?«
»Es ist vielleicht albern, was ich jetzt sage, aber …«
»Hier drin ist nichts albern. Vertraue den Erinnerungen und den Gefühlen, die sie in dir wachrufen.«
»Gut«, sagte Jonas, die Augen auf den Fußboden geheftet. »Ich weiß, dass Ihr diese Erinnerung jetzt nicht mehr habt, weil
Ihr sie mir übertragen habt, und deshalb versteht Ihr jetzt nicht …«
»Doch, ich werde es verstehen. Ich habe noch eine vage Vorstellung und außerdem habe ich noch viele andere Erinnerungen an
Familienszenen, Feiertage und Glück. Und an Liebe.«
Endlich platzte Jonas damit heraus. »Ich habe mir überlegt … nun, ich verstehe natürlich, dass es keine sehr praktische Lebensform war, als die alten Menschen mit anderen zusammenwohnten,
die nicht dafür ausgebildet waren, fachkundig für sie zu sorgen, so wie es heute bei uns der Fall ist, wo alles bestens arrangiert
ist. Aber trotzdem glaube ich, ich meine, eigentlich habe ich es deutlich gefühlt, dass es irgendwie schön war damals. Und
ich wünschte, es wäre noch immer so und Ihr könntet mein Großvatersein. Die Familie in der Erinnerung schien irgendwie mehr …« Auf der Suche nach dem richtigen, passenden Wort kam Jonas ins Stocken.
»Vollkommener?«, schlug der Geber vor.
Jonas nickte.
»Ja, sie war vollkommener. Die liebevolle Atmosphäre dort gefiel mir sehr«, gestand er und warf einen nervösen Blick auf die
Abhöranlage an der Wand, um sicherzugehen, dass niemand sie belauschen konnte.
»Ich wünschte, das gäbe es noch immer«, flüsterte er. »Natürlich verstehe ich«, fügte er dann schnell hinzu, »dass dann alles
etwas komplizierter wäre. Und dass es besser ist, wenn alles so gut durchorganisiert ist wie in unserer Gemeinschaft. Ich
begreife, dass es früher irgendwie
gefährlich
war.«
»Wie meinst du das?«
Jonas zögerte. Er wusste selbst nicht recht, wie er das meinte. Er spürte deutlich, dass diese Lebensform
Risiken
barg, wusste aber nicht, welcher Art. »Nun ja«, sagte er schließlich, froh darüber, wenigstens
eine
Erklärung gefunden zu haben, »sie hatten mitten im Raum ein Feuer brennen. Im Kamin brannte Feuer. Und dann waren da noch
die Kerzen auf dem Tisch. Mir ist völlig klar, warum diese Dinge verboten wurden.«
Nach kurzem Überlegen fuhr er fort. »Und trotzdem«, sagte er leise, fast wie zu sich selbst, »sie verbreiteten ein wunderschönes
Licht. Und Wärme.«
»Vater? Mutter?«, fragte Jonas etwas verlegen nach dem Abendessen. »Ich würde euch gerne etwas fragen.«
»Was denn, Jonas?«, fragte sein Vater.
Jonas zwang sich auszusprechen, was ihm auf der Seele
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