Hüter der Flamme 01 - Die Welt des Meisters
passiert?« Andrea deutete auf ihr Gewand, auf ihn und die Kisten auf dem Berggipfel. »Wir sind genau an dem Platz, den Dr. Deighton uns beschrieben hat. Schau doch!«
Er schaute nach Osten. Die frühe Morgensonne beschien die in weiter Ferne liegenden Mauern der Stadt unter ihnen. Karl legte die Hand an die Stirn, um die Augen abzuschirmen. Die Mauern waren stark und dick. Ein paar Bogenschützen standen auf dem Weg, der um sie herumführte. Menschen und Pferde, die zweirädrige Karren zogen, schwärmten aus dem Tor heraus und herein.
Nach Norden hin erstreckte sich eine riesige dunkle Wasserfläche über den Horizont. Wellen brachen sich am felsigen Ufer. Weit draußen glitt ein Schoner mit weit ausladenden Gaffeln auf die Docks zu.
Aber es gab noch mehr als das, was Deighton beschrieben hatte. Er hatte das Fischerdorf im Norden nicht erwähnt. Das hatte Karl sich nicht vorgestellt.
Woher wußte er, daß es ein Fischerdorf war?
Es war zu kompliziert, zu merkwürdig. Er schüttelte den Kopf. »Du hast recht, ich weiß nicht wie; aber irgendwie sind wir hier.« Er streckte die Arme aus, preßte die Muskeln gegen die Nähte des Lederwamses und holte tief Luft. Die Luft war sauber, frisch, mit einem angenehmen Geruch nach Ozon. Diese Welt hatte nie den Gestank eines Ver brennungsmotors kennengelernt. »Aber man fühlt sich eigentlich wohl.«
»Du vielleicht.« Sie war schon wieder den Tränen nahe. »Aber wie komme ich nach Hause?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe es auch nicht so gemeint – ich will keineswegs hier für immer bleiben.« Es war gut und schön, einen Krieger zu spielen – aber die verschwommene Erinnerung, daß sein Schwert jemandem den Bauch wie einer überreifen Tomate aufschlitzte … war kein gutes Gefühl, jedenfalls nicht für Karl Cullinane. Aber ich bin nicht nur Karl, nicht mehr. Jetzt ist auch viel von Barak in mir. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Er und Andy-Andy waren früher etwa gleich groß gewesen. Wenn sie aber Schuhe mit hohen Absätzen getragen hatte, hatte sie auf ihn herabgeschaut. Jetzt überragte er sie fast einen halben Meter. Wenn er dicht neben ihr stand, mußte sie den Hals recken, um zu ihm aufzuschauen. Sie hatte sich nicht verändert, jedenfalls nicht äußerlich. Sie hatte nur ihre Jeans und Bluse mit den losen Gewändern vertauscht.
Und die Angst in ihren Augen. Die war neu. »Karl, wie werden wir nur … «
»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber irgendwie … «
»Ist das eine Privatunterhaltung oder kann sich jeder beteiligen?« ertönte Walter Slowotski Stimme hinter ihm.
Karl wirbelte herum. Er hatte den schweren Mann nicht gehört. Nein, Walter war nicht mehr der Riese. Ich bin einen halben Kopf größer als er. »Laß das!«
»Was soll ich lassen?« Slowotski lächelte unschuldig. Außer Andy-Andy hatte er sich von allen aus der Gruppe am wenigsten verändert, zumindest äußerlich. Seine Haut war ein oder zwei Schattierungen dunkler geworden. Sein schwarzes Haar war etwas länger und gerader, und um seine Augen zeigten sich am äußeren Lidwinkel ein paar Fältchen; aber das war alles. Sogar sein Mit-der-Welt-ist-aÜes-in-Ordnung-Lächeln war unangetastet.
»Schleich dich nicht an mich an. Das mag ich nicht.«
Slowotski zuckte mit den Schultern. Unter der nackten Haut auf seiner Brust spielten Muskeln. Er trug die Kleidung, die sich für Hakim gehörte: kein Hemd, aber Pluderhosen, die um die Taille eng gegürtet waren. Die Hose steckte unten in der Verschnürung seiner Sandalen. Links hing von seiner Mitte ein geschwungener Krummsäbel in einer Lederscheide. Rechts baumelten Messer und Riemen. Slowotski rieb sich die Schläfen. »Ich nehme an, ich sollte mich irgendwie entschuldigen. Es ist bloß so, daß für mich das lautlose Gehen ganz natürlich ist. Es ist wie ein neues Spielzeug, Karl. Oder soll ich dich Barak nennen?«
»Karl.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Barak würde dir eines über die Rübe ziehen als Erinnerungshilfe.«
»Guter Punkt. Dann nennst du mich lieber Walter. Hakim würde dir ein Messer zwischen die Rippen rennen, denn … « Er brach ab und hob verblüfft die Hand. »Entschuldigung, aber das war ich nicht.«
»Verstehe.« Karl nahm die Hand vom Schwertgriff. »Aber die Frage ist … «
»Was sollen wir nun anfangen?« In Andy-Andys Stimme war eine neue Kraft, wenn auch nicht sehr stark.
Karl lächelte ihr zu. »Stimmt.« Sie begann sich einzufügen. Noch vor wenigen Minuten hätte sie
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