Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
den Wassersack nach und überlegte, ob ich trinken sollte, um zu zeigen, daß ich ihm vertraute. Dann gelangte ich zu der Einsicht, daß das Risiko zu groß war, obwohl eigentlich kein Sinn darin lag, daß Bast mich vergiftete. Aber vielleicht war ihm das nicht klar.
Wir hatten in der letzten Zeit genug mit Giften zu tun gehabt, auch wenn es vorgetäuschte gewesen waren.
»Ich glaube nicht, Bast«, sagte ich und reichte ihm den Sack zurück.
»Du verlangst von mir, daß ich dir vertraue, ohne daß du mir deinerseits vertraust?« fragte er.
Ich nickte. »Ja, so ist es.«
Nach all dem war es eine faire Beschreibung der Lage.
Die Tür zu Andys Kajüte stand halb offen. Das Licht, das durch den Lattenverschlag vor dem Bullauge drang, tauchte die Koje mit ihrer unordentlich zerwühlten, braunen Decke in helle und dunkle Streifen. Bekleidet mit Shorts und Top, wegen der Hitze des Tages, saß sie zwischen weit verstreuten Gegenständen im Schneidersitz auf ihrer Koje: ein silbernes Messer mit mattem, weißem Griff aus frischem Knochen; eine Spule mit unglaublich dünnem Garn; ein kleiner, linsen förmiger Kristall, der von einer Tonkralle gehalten wurde; eine lange Feder, die in allen Regen bogenfarben schillerte, als sie gedanken verloren von ihr gestreichelt wurde.
Also das Übliche.
Sie bemerkte mich nicht gleich, weil sie sich völlig auf das dicke, in Leder gebundene Buch konzentriert hatte. Ich warf einen Blick auf die Seiten und stellte fest, daß ich sie nicht nur nicht lesen konnte, son dern daß die Buchstaben vor mei nen Augen verschwammen und tanzten.
Noch mehr Magie. Mich fröstelte. Ich stehe nicht gerade auf Magie.
Ich stand schweigend in der Tür. Darin bin ich gut. So saß ich einmal länger als einen Tag zusammengekauert und reglos auf einem Ast, während die Sonne aufging, unterging und wieder aufging. Bei dem Gedanken daran spüre ich noch heute die Schmerzen in Gesäß und Rücken.
»Schließ die Tür und setz dich«, forderte sie mich auf, ohne hochzublicken. »Ich beiße nicht.«
»Oh, verdammt.«
Sie hob den Kopf in die Licht- und Schattenstreifen, so daß das Licht ihr auf Augen und Mund fiel, als sie kurz lächelte. Für diesen Moment fielen all die Jahre von uns ab - wir waren wieder um die zwanzig. Vielleicht sah sie zu jung aus für all die Jahre oder vielleicht war es nur, daß die Jahre ihr schließlich gut getan hatten. Ich habe nie an den Unsinn der Anderen Seite geglaubt, daß eine Frau nur mit zwanzig am schönsten ist und daß es mit dreißig bergab mit ihr geht.
Es hielt nur einen kurzen Augenblick an, bis sie den Kopf wieder neigte und ein schattiger Streifen ihr Lächeln in ein dunkles, fremdes Grinsen verwandelte. Ein anderer Streifen maskierte ihre Augen. »Was machen die anderen gerade?«
Ich setzte mich auf die Koje.. Das Zauberbuch lag zwischen uns. »Jason und Tennetty sind in die Stadt gegangen. Wollen sich ein wenig umsehen. Ahira ist bei den Docks und besorgt eine Passage für Bast und Kenda. Wir sollten die beiden heute abend endlich los sein. Was hast du gerade vor?«
Übersetzung: Wieweit hast du Magie angewendet, und wie sehr beeinflußt sie dich?
Ihr Mund zuckte im Schatten. »Ich probiere erfolglos Zaubersprüche, die über meine Fähigkeiten hinausgehen.« Ich glaube, sie konnte deutlich die Bestürzung in meinem Gesicht erkennen.
Sie winkte mit der Hand, als wolle sie meine Besorgnis beiseite wischen. Es funktionierte nicht. »Nein, keine gefährliche ... eher eine sanfte Magie. Auskunftsmagie, keine Kraftmagie«, beruhigte sie mich. Andy deutete mit dem Finger auf eine verschwommene Zeile im Buch. »Dies hier, zum Beispiel: Ich könnte, sagen wir mal, die zweite Silbe des Auslösungsworts betonen, die Nachsilben umkehren für irgendeinen der Herrschenden meinen Weg durch die Dominanten lispeln - und alles, was dann mit der Kraft geschieht, wäre ziemlich zufällig und ungerichtet, so daß sie keine große Wirkung erzielte. So könnte sie dann beispielsweise die Temperatur hier im Raum um ein paar Grad steigen lassen. Das wäre aber auch schon so ziemlich alles.«
»Wofür ist er ... der Zauberspruch, meine ich?«
»Landkartenherstellung«, erklärte sie. »Fern magie. In Ehvener werden wir sie brauchen. Wir sind schon dicht dran. Wann sind wir dort? Morgen nacht?«
Ich nickte. »Schlimmstenfalls am Morgen danach.«
Oder bestenfalls. Diesmal fröstelte mich nicht. Instinktiv griff ich zu ihrem Messer - ich fühle mich wohler mit einer spitzen
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